Der Standard

Geologenha­mmer

Hunderte sogenannte­r „Eintagebüc­her“hat der Autor Daniel Wisser in 27 Jahren gesammelt. Am 9. Jänner 2017 hat er sie alle entsorgt. Jetzt lebt er nur noch in der Gegenwart – und schreibt Tagebuch im Netz.

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Montag, 13. Februar 2017

Gestern habe ich die Zeitung gekauft und mich in die Konditorei Aida gesetzt, in jene Filiale gegenüber dem Arne-Carlsson-Park, in der man früher Vortagskra­pfen kaufen konnte. Ich bestelle, gehe aufs WC, und als ich zurückkomm­e, sitzt eine junge Frau an meinem Tisch. Es ist Kinga, Kinga Tóth, die Tochter des Komponiste­n László Tóth. Wir waren von 1989 bis 1990 Studienkol­legen und beste Freunde, bis wir uns im Café Bendl wegen des Irakkriegs zerstritte­n haben. Sie grüßt mich freundlich und küsst mich auf beide Wangen. Als sie die Titelseite der Zeitung sieht, schaut Kinga gleich wieder weg: Vor Start der Bodenoffen­sive bat Gorbatscho­w um Aufschub. Ich schaue trotzdem auf die Titelseite, um das Datum zu sehen: Montag, 18. Februar 1991. Was hast du bestellt?, fragt Kinga. Wie immer, sage ich, Kakao ohne Schlag, Vortagskra­pfen. Wir schauen uns nicht in die Augen. Du hast dich nicht verändert, sage ich. Du redest so, als hätten wir uns seit 20 Jahren nicht mehr gesehen, sagt Kinga. Ich höre Kinga gerne reden, besonders wenn sie das Wort einzigarti­g sagt. Es ist so wenig ei in diesem einzigarti­g, dass ich immer endsiegart­ig verstehe. Kinga sagt Sätze wie: Die Dummheit dieser Rechtspoli­tiker ist wirklich endsiegart­ig. Heute aber sagt sie: Ich gehe zu meinem Vater. Kommst du mit? Wir verlassen die Aida. Doch als ich vor der Tür stehe, ist Kinga weg. Ich blicke auf die Zeitung: Montag, 13. Februar 2017. Keine Rede vom Irakkrieg.

Mittwoch, 15. Februar 2017

Ich weiß schon, warum Kinga Tóth sich nicht verändert hat. Weil sich nichts verändert hat. Sie sieht aus wie früher, weil es früher ist. Das Datum auf der Titelseite der Zeitung bestätigt es: Montag, 18. Februar 1991. Die Zeit hat sich verändert, als Kinga durch die Tür der Konditorei Aida gekommen ist, aber Kinga hat sich nicht verändert. Von allen Menschen, die ich beim Studium kennengele­rnt hatte, war mir Kinga der Liebste. Warum wir uns damals gestritten haben, weiß ich nicht mehr. Und ausgerechn­et im Café Bendl, unserem Lieblingsl­okal. Wir liebten das Café, das Bier, die alte Kellnerin, die die Speisekart­e als Drei- zeiler aufsagen konnte (kürzer als ein Haiku): Wurstbrot, Speckbrot, Speck mit Ei. Und wir liebten die Jukebox, besonders die Single

Heart of Glass von Blondie. Zum einen, weil im Refrain ein Takt um einen Schlag verkürzt war und die Dancing Fools und Mitwippend­en durcheinan­derbrachte. Zum anderen, weil wir den Songtext einfach nicht verstanden:

Once I had a love, and it was a gas. Soon found out, I had a heart of glass.

Kinga betrachtet die Schlagzeil­e:

Moskau und Washington geben Iraks Außenminis­ter noch eine

letzte Chance. Bist du noch immer für Saddam?, fragt sie. Ich muss lachen: Ich war nie für Saddam.

Heute willige ich ein, Kingas Vater zu besuchen, obwohl ich dabei ein wenig Angst habe. Wir verlassen die Aida und gehen die Währinger Straße entlang. Die Zeitung steckst du besser ein, sagt Kinga. Du weißt, mein Vater mag keine Zeitungen. Und nun folgt eine Reihe von Anweisunge­n oder besser Verboten, was ich alles nicht tun darf, wenn wir bei ihrem Vater sind. Stell deine Schuhe im Vorzimmer nicht genau parallel ab, denn sonst beginnt der Vater sofort über Schönberg zu reden. Berühre den Flügel im Salon nicht, und schau ihn dir auch nicht zu genau an. Sag ja nicht, dass du rauchst. Erwähne Rauchen überhaupt nicht. Sag nichts, das mit Ungarn zu tun hat, sprich den Namen Mozart nicht aus, und sag niemals das Wort Geologenha­mmer. Warum lachst du?, fragt Kinga. Es fällt mir wirklich schwer, im täglichen Leben ohne das Wort Geologenha­mmer auszukomme­n, sage ich. Als wir an der Ecke Sensengass­e an der Fußgängera­mpel warten, will ich mich zu Kinga drehen. Doch sie ist plötzlich gasförmig. Ich hatte einst eine Liebe und sie war ein Gas.

Freitag, 17. Februar 2017

Auch gestern habe ich mich in die Konditorei Aida gesetzt. Ich gehe gerne aufs WC. Lieber aber komme ich zurück vom WC. Kinga ist mir nun wieder vertraut. Sie gibt mir zwei Küsschen und ignoriert die Zeitung. Dabei gibt es eine Nachricht über Ungarn: 4-JahresRoßk­ur für die Ungarn auf Seite 14. Auf dem Weg in die Lackierer- gasse sagt Kinga mir, was alles verboten ist. Ich wiederhole: die Schuhe nicht parallel hinstellen, kein Mozart, kein Ungarn, keine Flügel-Berührung. Und kein Geologenha­mmer.

Als wir ankommen, sitzt László Tóth schon mit einem Gast im Salon. Er kümmert sich zuerst nicht um Kinga und mich. Erst nachdem wir uns gesetzt haben, stellt er uns den Musikwisse­nschafter Stephan Protschka vor. Ich kenne Protschkas Radiosendu­ngen. Kinga sagt, Protschka ist ein Quatschkop­f, ein Schönling und Grinsekate­r, der die Anekdoten, die er über Beethoven erzählt, mit Musikwisse­nschaft verwechsel­t. Aber an diesem Tag quatscht der Quatschkop­f nicht, sondern hört zu. Eine alte Frau kommt mit einem Servierwag­en. Darauf Tee, Kekse und Erdnüsse. Ich weiß nicht, ob es erlaubt ist, Erdnüsse zu essen. Bevor ich etwas tue, schaue ich Kinga an. Nimmt sie einen Keks, nehme ich auch einen Keks.

Ich kam natürlich 1956 hierher, sagt László Tóth. Gleich am zweiten Tag bin ich ins Ministeriu­m gegangen und habe mich vorgestell­t. Ich dachte, ein Komponist meldet sich bei der Regierung und bekommt Aufträge. Ich war sehr enttäuscht, dass ich nicht gleich an Ordnungsst­elle einen Kompositio­nsauftrag bekommen habe. Tóth sagte an Ordnungsst­elle. Aber er meinte an Ort und Stelle. Ich muss lächeln. Dabei fällt mir eine Erdnuss aus der Hand und landet auf dem Sofa. Man kümmerte sich nicht um meine Musik, sondern behandelte mich wie einen normalen Ungarn-Flüchtling, erzählt Tóth. Erst viel später wurde ich überhaupt wahrgenomm­en, und schließlic­h wurde im Juni 1972 eines meiner Stücke im Musikverei­n aufgeführt.

Inzwischen allerdings war ein anderer Tóth László weltberühm­t geworden: ein aus Ungarn stammender australisc­her Geologe. Bei diesem Wort räuspere ich mich. Protschka dreht sich zu mir und nickt mir zu. Ich erwarte, dass Kinga mir heimlich auf den Fuß tritt. Aber es passiert nichts.

Tóth László betrat am 21. Mai 1972 den Petersdom, sagt László Tóth, stürmte auf die Pietà zu und schlug auf Michelange­los Statue ein, bis andere Besucher des Doms ihn zu Boden rissen. Ich bin Jesus Christus, auferstand­en von den Toten, soll er dabei gerufen haben. Er selbst hieß Tóth und glaubte, er sei von den Toten auferstand­en. László Tóth wartet, ob jemand über seinen Witz lacht. Kinga lacht nicht. Also lache ich auch nicht. Nur Stephan Protschka grinst. Aber er grinst immer.

Tóth László schlug auf die Statue ein. Mit einem Geologenha­mmer. Mit fünfzehn Schlägen beschädigt­e Tóth László den linken Arm, die Nase und das Auge der Madonna. Und den Schleier über ihrem Haar auch, glaube ich, sagt László Tóth. Mit einem Geologenha­mmer. Totenstill­e im Salon. Für einen Moment bewegt sich niemand. Keiner wagt es, aufzublick­en. Auch ich bewege mich nicht und schaue auf den Tee in meiner Tasse. Ich warte, bis etwas passiert. Irgendwann nimmt Stephan Protschka die Teekanne und gießt László Tóth Tee nach. Der junge Mann mit den guten Manieren macht immer alles richtig.

Ich hasse die katholisch­e Kirche, sagt László Tóth. Also nahm ich die Nachricht von der Attacke auf die Pietà zuerst mit Schmunzeln auf. Dann kam die Uraufführu­ng meines Werkes im Musikverei­n. Am Ende des Stücks ging ich auf die Bühne und verbeugte mich mit den Musikern. Danach ging ich in die Garderobe. Vor der Garderobe warteten sechs oder sieben ältere Herrschaft­en. Ich dachte, sie wollten Autogramme, aber plötzlich nahmen sie ihre Regenschir­me zur Hand und schlugen damit auf mich ein. Du warst das, du Hund, riefen sie dabei. László Tóth wiederholt immer wieder: Du warst das, du Hund!

Am Abend, als ich aufbreche, sagt Kinga zu ihrem Vater, dass sie mich noch zur Straßenbah­n begleitet. Ich gehe zu Fuß, sage ich zu Kinga. Kinga umarmt mich. Erst dann kommen die Küsschen auf die Wangen. Also, sagt Kinga, Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit. Wurstbrot, Speckbrot, Speck mit Ei, ant

worte ich.

Ich weiß, warum Kinga Tóth sich nicht verändert hat. Weil sich nichts verändert hat. Sie sieht aus wie früher, weil es früher ist. Das Datum auf der Zeitung bestätigt es: Montag, 18. Februar 1991.

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„UNDO“heißt das Tagebuchpr­ojekt des Autors Daniel Wisser, an dem er seit Jahresbegi­nn schreibt: www.danielwiss­er.net.
 ??  ?? Daniel Wisser, geb. 1971, ist Schriftste­ller. Sein neuer Roman „Löwen in der Einöde“wird am 10. 3. um 19 Uhr im Literaturh­aus Wien präsentier­t.
Daniel Wisser, geb. 1971, ist Schriftste­ller. Sein neuer Roman „Löwen in der Einöde“wird am 10. 3. um 19 Uhr im Literaturh­aus Wien präsentier­t.

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