Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit
Wer kein Jenseits kennt, muss im Diesseits alles richtig machen. Der säkulare Mensch arbeitet als Designer des eigenen Schicksals. Voraussetzung dafür, im Kampf ums hausgemachte Glück ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen, ist: Gesundheit. „Gesundheit“meint – wie auch die WHO definiert – nicht nur die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit meint Störungsfreiheit, Leistungsfähigkeit, gesteigerte Normalität. Du sollst sein wie alle, nur besser! Dazu Schönheit und Jugend, also Funktionstüchtigkeit in jeder Hinsicht. In Bezug auf die Gesellschaft heißt Gesundheit: Sicherheit und Kontrollierbarkeit. Auf dass es dem Gesellschaftskörper gutgehe wie einem satten, frisch gewickelten Säugling.
Virus im Gesellschaftskörper
Gesundheit wird zur ersten Bürgerpflicht. Wir schulden sie nicht uns selbst, sondern dem System. Zur Begründung reicht eine simple Pervertierung des Solidaritätsgedankens: Wenn die Gesellschaft dem Einzelnen Hilfe in der Not garantiert, dann garantiert der Einzelne der Gesellschaft das Bemühen, diese Not zu vermeiden. Denn Not ist teuer. So lautet der neue Gesellschaftsvertrag. Der kranke oder dicke oder schwache oder rauchende oder keinen Sport treibende oder halb verrückte oder trinkende oder Kartoffelchips essende Mensch ist ein Virus im Gesellschaftskörper. Er wird benachteiligt, ausgegrenzt, degradiert. Bald wird er bestraft.
Längst hat sich der individuelle Lebensweg in einen ansteigenden Pfad beständiger Selbstoptimierung verwandelt. Der Staat leistet Unterstützung durch stetige Erhöhung des Schutzniveaus. Angesichts von Gesundheit als kollektivem Lebensziel wird alles zur Bedrohung: Essen, Genussmittel, Straßenverkehr, falsche Matratzen, Kinderspielzeug aus Plastik, Luftverschmutzung, Lärm, waghalsige Sportarten, Auslandsreisen, Computerspiele und Sonnenbaden. Das alles kann man überwachen und regulieren. Das perfekte Leben ist herstellbar, und es ist obligatorisch.
Das Recht auf Fehler
Den Bürger des 21. Jahrhunderts stört das nicht, denn er braucht seine Freiheit höchstens zum Aussuchen des richtigen BioObst-Lieferanten. Aufmüpfigkeit oder Exzentrik sind ihm zuwider, es sind Störfälle im gesellschaftlichen Metabolismus. Der moderne Mensch liebt das Glatte und Reibungslose. Meinungsfreiheit begreift er als das Freisein von Meinungen. Er geht nicht auf Demos, sondern zum Stadtmarathon. In Wahrheit ist er kein Bürger, kein Freier, nicht Herr seiner selbst. Er hat die äußeren Fesseln abgeschüttelt, um sich zum Sklaven eines Prinzips zu machen.
Auf dem Weg zur totalen Effizienz werden wir alles verlieren. Das Recht zu straucheln, das Recht zu irren, das Recht auf Rausch, das Recht auf Fehler und Reue, Schmerz und Trauer, das Recht, uns selbst zu schaden, das Recht zu verfallen und zu sterben. Funktioniere!, ruft der kapitalistische Imperativ, und das Volk schreit: Ich will!
Na dann: À votre santé!