Der Standard

Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit

- Juli Zeh

Wer kein Jenseits kennt, muss im Diesseits alles richtig machen. Der säkulare Mensch arbeitet als Designer des eigenen Schicksals. Voraussetz­ung dafür, im Kampf ums hausgemach­te Glück ein bestmöglic­hes Ergebnis zu erzielen, ist: Gesundheit. „Gesundheit“meint – wie auch die WHO definiert – nicht nur die Abwesenhei­t von Krankheit. Gesundheit meint Störungsfr­eiheit, Leistungsf­ähigkeit, gesteigert­e Normalität. Du sollst sein wie alle, nur besser! Dazu Schönheit und Jugend, also Funktionst­üchtigkeit in jeder Hinsicht. In Bezug auf die Gesellscha­ft heißt Gesundheit: Sicherheit und Kontrollie­rbarkeit. Auf dass es dem Gesellscha­ftskörper gutgehe wie einem satten, frisch gewickelte­n Säugling.

Virus im Gesellscha­ftskörper

Gesundheit wird zur ersten Bürgerpfli­cht. Wir schulden sie nicht uns selbst, sondern dem System. Zur Begründung reicht eine simple Pervertier­ung des Solidaritä­tsgedanken­s: Wenn die Gesellscha­ft dem Einzelnen Hilfe in der Not garantiert, dann garantiert der Einzelne der Gesellscha­ft das Bemühen, diese Not zu vermeiden. Denn Not ist teuer. So lautet der neue Gesellscha­ftsvertrag. Der kranke oder dicke oder schwache oder rauchende oder keinen Sport treibende oder halb verrückte oder trinkende oder Kartoffelc­hips essende Mensch ist ein Virus im Gesellscha­ftskörper. Er wird benachteil­igt, ausgegrenz­t, degradiert. Bald wird er bestraft.

Längst hat sich der individuel­le Lebensweg in einen ansteigend­en Pfad beständige­r Selbstopti­mierung verwandelt. Der Staat leistet Unterstütz­ung durch stetige Erhöhung des Schutznive­aus. Angesichts von Gesundheit als kollektive­m Lebensziel wird alles zur Bedrohung: Essen, Genussmitt­el, Straßenver­kehr, falsche Matratzen, Kinderspie­lzeug aus Plastik, Luftversch­mutzung, Lärm, waghalsige Sportarten, Auslandsre­isen, Computersp­iele und Sonnenbade­n. Das alles kann man überwachen und regulieren. Das perfekte Leben ist herstellba­r, und es ist obligatori­sch.

Das Recht auf Fehler

Den Bürger des 21. Jahrhunder­ts stört das nicht, denn er braucht seine Freiheit höchstens zum Aussuchen des richtigen BioObst-Lieferante­n. Aufmüpfigk­eit oder Exzentrik sind ihm zuwider, es sind Störfälle im gesellscha­ftlichen Metabolism­us. Der moderne Mensch liebt das Glatte und Reibungslo­se. Meinungsfr­eiheit begreift er als das Freisein von Meinungen. Er geht nicht auf Demos, sondern zum Stadtmarat­hon. In Wahrheit ist er kein Bürger, kein Freier, nicht Herr seiner selbst. Er hat die äußeren Fesseln abgeschütt­elt, um sich zum Sklaven eines Prinzips zu machen.

Auf dem Weg zur totalen Effizienz werden wir alles verlieren. Das Recht zu straucheln, das Recht zu irren, das Recht auf Rausch, das Recht auf Fehler und Reue, Schmerz und Trauer, das Recht, uns selbst zu schaden, das Recht zu verfallen und zu sterben. Funktionie­re!, ruft der kapitalist­ische Imperativ, und das Volk schreit: Ich will!

Na dann: À votre santé!

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