Die Überwindung der Nationalstaaten
Eine künftige Besiedelung des Mars halten mehr Menschen für realistisch als eine Welt ohne Nationalstaaten. Dem Menschen scheint alles möglich – außer es betrifft die Einlösung der Menschenrechte. In Hinblick auf die Frage, in welcher politischen Organisationsform das Menschenrecht, die Chancengleichheit aller Menschen, Wirklichkeit werden könne, setzt der Möglichkeitssinn der meisten aus. Nur aus Fantasielosigkeit und Geschichtsvergessenheit scheint der Nationalstaat immer noch Zukunft zu haben. Die Entstehung der Nationalstaaten in Europa, die Eroberung und Einigung ihrer Territorien, ihr Konkurrenzkampf um Ressourcen, kurz: Nationalistische Ideologien in der Praxis haben zu grauenhaften Kriegen und schließlich zu den größten Menschheitsverbrechen der Geschichte geführt. Ebendeshalb war in Europa nach 1945 die Überwindung der Nationalstaaten das zentrale Motiv jener, die das Europäische Einigungsprojekt begründeten. Was der Nationalstaat historisch leistete, war, eine Vielzahl von Kleinstaaten mit Gewalt zu einer je größeren politischen Einheit, letztlich zu einem gemeinsamen Markt zusammenzuschließen. Muss man wirklich argumentieren, dass dies nicht das Ende der politischen und wirtschaftlichen Geschichte sein kann?
Tatsächlich haben sich die nationalen Märkte in Europa längst zu einem größeren gemeinsamen Markt vereinigt, noch dazu auf friedliche Weise. Aber dieser europäische Markt ist nicht eingebettet in eine nachnationale europäische Demokratie. Durch die längst transnationalen Wertschöpfungsketten, Kapital- und Finanzströme ist Nationalökonomie zur Fiktion geworden, so wie auch die Möglichkeiten nationaler politischer Souveränität. Denn keine der großen politischen Herausforderungen, denen wir uns heute stellen müssen, können an nationalen Grenzen abgewehrt oder innerhalb von nationalen
Grenzen souverän gelöst werden. Globalisierung ist ja nichts anderes als dies: die Sprengung aller nationalen Grenzen.
Solange die Vernetzung der Welt nicht in einer adäquaten nachnationalen politischen Organisation gestaltet wird, sondern die Welt in konkurrierende Nationen gespalten bleibt, wird es Wirtschaftskriege geben, Kriege um Ressourcen, wachsende Migrations- und Flüchtlingsbewegungen, ungerechte Verteilung und ein Ende des sozialen Friedens selbst in den privilegierten Staaten. Damit ist auch die nationale Demokratie am Ende. Sie kann wachsende Ungleichheit noch eine Zeitlang hilflos verwalten, aber sie kann ihr Prinzip, nämlich dass alle Menschen frei und gleich an Würde, Rechten und Chancen seien, nie und nimmer einlösen. Genau das aber muss der Anspruch eines Europa von morgen sein: die Verwirklichung des allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatzes für alle europäischen Bürger. Ohne gleiches Recht keine politische Einheit in Europa.
Die Gründer des Europäischen Projekts, das zur heutigen EU wurde, hatten aus historischen Erfahrungen, der Zerstörung der europäischen Zivilisation durch den Nationalismus, die Konsequenzen gezogen. Europa hätte daher in Hinblick auf eine bewusste nachnationale Entwicklung die größte Expertise. Doch diese Entwicklung ist ins Stocken geraten – durch den wieder wachsenden Eigensinn und Widerstand der Nationalstaaten. So kann die Gemeinschaft die Probleme noch nicht lösen, die die Nationen nicht mehr lösen können. Die gegenwärtigen Krisen sind die Symptome dieses unproduktiven Widerspruchs. Aber es ist ein Faktum, dass die Nationen immer schwächer werden. Sie werden untergehen, zunächst in Europa, und Platz machen für eine nachnationale europäische Republik, als Avantgarde auf dem Weg zu einer Weltbürgerunion. Es gilt, nicht die Souveränität der Nation zu verteidigen, sondern die Souveränität des Bürgers zu erringen.
Fantastisch? Ja, das wäre es. Vor allem aber: geschichtslogisch – und realistischer als die Besiedelung des Mars.