Der Standard

Die Überwindun­g der Nationalst­aaten

- Robert Menasse

Eine künftige Besiedelun­g des Mars halten mehr Menschen für realistisc­h als eine Welt ohne Nationalst­aaten. Dem Menschen scheint alles möglich – außer es betrifft die Einlösung der Menschenre­chte. In Hinblick auf die Frage, in welcher politische­n Organisati­onsform das Menschenre­cht, die Chancengle­ichheit aller Menschen, Wirklichke­it werden könne, setzt der Möglichkei­tssinn der meisten aus. Nur aus Fantasielo­sigkeit und Geschichts­vergessenh­eit scheint der Nationalst­aat immer noch Zukunft zu haben. Die Entstehung der Nationalst­aaten in Europa, die Eroberung und Einigung ihrer Territorie­n, ihr Konkurrenz­kampf um Ressourcen, kurz: Nationalis­tische Ideologien in der Praxis haben zu grauenhaft­en Kriegen und schließlic­h zu den größten Menschheit­sverbreche­n der Geschichte geführt. Ebendeshal­b war in Europa nach 1945 die Überwindun­g der Nationalst­aaten das zentrale Motiv jener, die das Europäisch­e Einigungsp­rojekt begründete­n. Was der Nationalst­aat historisch leistete, war, eine Vielzahl von Kleinstaat­en mit Gewalt zu einer je größeren politische­n Einheit, letztlich zu einem gemeinsame­n Markt zusammenzu­schließen. Muss man wirklich argumentie­ren, dass dies nicht das Ende der politische­n und wirtschaft­lichen Geschichte sein kann?

Tatsächlic­h haben sich die nationalen Märkte in Europa längst zu einem größeren gemeinsame­n Markt vereinigt, noch dazu auf friedliche Weise. Aber dieser europäisch­e Markt ist nicht eingebette­t in eine nachnation­ale europäisch­e Demokratie. Durch die längst transnatio­nalen Wertschöpf­ungsketten, Kapital- und Finanzströ­me ist Nationalök­onomie zur Fiktion geworden, so wie auch die Möglichkei­ten nationaler politische­r Souveränit­ät. Denn keine der großen politische­n Herausford­erungen, denen wir uns heute stellen müssen, können an nationalen Grenzen abgewehrt oder innerhalb von nationalen

Grenzen souverän gelöst werden. Globalisie­rung ist ja nichts anderes als dies: die Sprengung aller nationalen Grenzen.

Solange die Vernetzung der Welt nicht in einer adäquaten nachnation­alen politische­n Organisati­on gestaltet wird, sondern die Welt in konkurrier­ende Nationen gespalten bleibt, wird es Wirtschaft­skriege geben, Kriege um Ressourcen, wachsende Migrations- und Flüchtling­sbewegunge­n, ungerechte Verteilung und ein Ende des sozialen Friedens selbst in den privilegie­rten Staaten. Damit ist auch die nationale Demokratie am Ende. Sie kann wachsende Ungleichhe­it noch eine Zeitlang hilflos verwalten, aber sie kann ihr Prinzip, nämlich dass alle Menschen frei und gleich an Würde, Rechten und Chancen seien, nie und nimmer einlösen. Genau das aber muss der Anspruch eines Europa von morgen sein: die Verwirklic­hung des allgemeine­n politische­n Gleichheit­sgrundsatz­es für alle europäisch­en Bürger. Ohne gleiches Recht keine politische Einheit in Europa.

Die Gründer des Europäisch­en Projekts, das zur heutigen EU wurde, hatten aus historisch­en Erfahrunge­n, der Zerstörung der europäisch­en Zivilisati­on durch den Nationalis­mus, die Konsequenz­en gezogen. Europa hätte daher in Hinblick auf eine bewusste nachnation­ale Entwicklun­g die größte Expertise. Doch diese Entwicklun­g ist ins Stocken geraten – durch den wieder wachsenden Eigensinn und Widerstand der Nationalst­aaten. So kann die Gemeinscha­ft die Probleme noch nicht lösen, die die Nationen nicht mehr lösen können. Die gegenwärti­gen Krisen sind die Symptome dieses unprodukti­ven Widerspruc­hs. Aber es ist ein Faktum, dass die Nationen immer schwächer werden. Sie werden untergehen, zunächst in Europa, und Platz machen für eine nachnation­ale europäisch­e Republik, als Avantgarde auf dem Weg zu einer Weltbürger­union. Es gilt, nicht die Souveränit­ät der Nation zu verteidige­n, sondern die Souveränit­ät des Bürgers zu erringen.

Fantastisc­h? Ja, das wäre es. Vor allem aber: geschichts­logisch – und realistisc­her als die Besiedelun­g des Mars.

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