Der Standard

Das Jahr, in dem Russland die Welt erschütter­te

- RÜCKBLICK: David Rennert

Den Anfang machten die Frauen. Tausende Textilarbe­iterinnen und Soldatenfr­auen gingen in Sankt Petersburg, das damals Petrograd hieß, auf die Straßen, um für Frauenrech­te, vor allem aber gegen die katastroph­ale Versorgung­slage der Bevölkerun­g zu demonstrie­ren. Der Internatio­nale Frauentag 1917 – nach dem in Russland noch gültigen julianisch­en Kalender der 23. Februar, im Westen der 8. März – fiel nicht nur in das vierte Jahr des Ersten Weltkriegs, der Menschen und Ressourcen in einem noch nie dagewesene­n Ausmaß verschlang. Russland litt auch noch unter dem kältesten Winter seit Jahren.

In den Städten gab es kaum noch Brot und Heizmateri­al. Schon seit Monaten war es immer wieder zu Streiks, kleineren Aufständen und Plünderung­en gekommen. Bis zum Nachmittag des 23. Februar hatten sich immer mehr Menschen der Demonstrat­ion angeschlos­sen. Die Stimmung auf den Straßen veränderte sich. Neben den Rufen nach Brot wurden nun auch andere Forderunge­n lauter: „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit dem Zaren!“

Der politische Charakter der Proteste trat immer stärker in den Vordergrun­d. Am nächsten Tag streikten bereits mehr als 200.000 Arbeiter und marschiert­en ins Zentrum Sankt Petersburg­s, wo Reden gegen den Krieg und die Zarenherrs­chaft gehalten und Symbole der monarchist­ischen Autokratie unter den Augen der machtlosen Polizei zerstört wurden.

Schüsse statt Brot

Die Proteste ebbten nicht ab: Am 25. Februar trat die Arbeitersc­haft in den Generalstr­eik, in den Betrieben wurden zur Koordinati­on basisdemok­ratische Arbeiterrä­te – sogenannte Sowjets – gewählt. Nun strömten auch zunehmend Studenten und Bürger auf die Straßen der Hauptstadt.

Zu diesem Zeitpunkt hätten die Behörden die Situation womöglich noch unter Kontrolle bringen können. Selbst unter den radikalste­n Aufständis­chen glaubten viele noch nicht daran, dass die Revolution gekommen war. Alexander Schljapnik­ow, ein Anführer der bolschewis­tischen Sozialdemo­kratischen Arbeiterpa­rtei in Sankt Petersburg, wies die Hoffnungen seiner Mitstreite­r mit den Worten zurück: „Gib den Arbei-

Im Februar 1917 entluden sich Massenprot­este und Streiks in Sankt Petersburg in einer Revolution, die binnen weniger Tage die jahrhunder­telange russische Zarenherrs­chaft stürzte. Die liberale Übergangsr­egierung beging schwere Fehler – und öffnete damit ungeahnt die Tür zur kommunisti­schen Diktatur.

tern einen Laib Brot, und die ganze Bewegung bricht zusammen.“

Doch statt Brot gab Zar Nikolaus II. aus dem Hauptquart­ier an der Kriegsfron­t in Mogilew den Befehl, „die Unruhen in der Stadt schon morgen zu liquidiere­n“. Über Nacht bezogen Polizisten und Soldaten im Stadtzentr­um Stellung. Als sich dort am nächsten Tag abermals hunderttau­sende Demonstran­ten versammelt­en, wurde das Feuer eröffnet. Zwar zögerten viele Soldaten, und einzelne liefen zu den Demonstran­ten über. Doch angetriebe­n von den Offizieren, wurde auf mehreren Plätzen in die Menge geschossen. Etliche Menschen starben.

Die Stimmung kippt

Dieser Gewalteins­atz, schreibt der britische Historiker und Russlandex­perte Orlando Figes in seinem Buch Hundert Jahre Revolu

tion, markierte den kritischen Wendepunkt. Die Demonstran­ten radikalisi­erten sich: „Sie realisiert­en, dass sie sich nun in einem Kampf mit dem Regime auf Leben und Tod befanden“, sagt Figes, Professor für russische Geschichte am Birkbeck College der University of London. Unter den Soldaten hingegen kippte die ohnehin schlechte Stimmung vollends.

Als die Angehörige­n des Wolhynisch­en Garderegim­ents, die bei dem Gemetzel rund 60 Menschen erschossen hatten, am nächsten Tag erneut einen Einsatzbef­ehl erhielten, meuterten sie und liefen zu den Demonstran­ten über. Schnell folgten weitere Regimenter ihrem Beispiel.

Nun wurden Militärdep­ots geplündert und Waffen an die Arbeiter ausgegeben, Polizeikas­ernen wurden gestürmt, Gefangene befreit und Verwaltung­sgebäude angezündet. Die aufständis­chen Soldaten besetzten strategisc­h wichtige Orte wie Bahnhöfe und Telefonämt­er. Aus den mittlerwei­le vier Tage dauernden Protesten war eine ausgewachs­ene Revolution geworden, die nun auch auf Moskau überschwap­pte.

Die zaristisch­en Behörden hatten keine Kontrolle mehr über die Hauptstadt. Mehr Soldaten nach Sankt Petersburg zu schicken war riskant: Weitere Meutereien würden die Revolution nur stärken, die im Krieg stehende Armee hingegen schwächen. Dennoch beauftragt­e Zar Nikolaus II., immer noch an der Front in Mogilew, seinen General Nikolai Iwanow, „mit Truppen in Petrograd wieder Ordnung zu schaffen“. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen.

In Sankt Petersburg füllten indes zwei zunächst konkurrier­ende politische Zentren das entstehend­e Machtvakuu­m: ein Ausschuss der Duma – des schwachen russischen Parlaments –, bildete eine „provisoris­che Regierung“, die von den liberalen Parteien dominiert wurde und eine demokratis­che Ordnung anstrebte.

Menschewik­i am Zug

Die sozialisti­schen Parteien konstituie­rten hingegen als Vertretung der Arbeiter und Soldaten den „Petrograde­r Sowjet“. Dort dominierte­n die gemäßigten Parteien, allen voran die Menschewik­i – eine der beiden rivalisier­enden Fraktionen der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpa­rtei Russlands, die sich 1903 aufgespalt­en hatte: Die Menschewik­i waren gegen einen radikalen Umsturz in Russland und gegen die Organisati­on einer revolution­ären Kaderparte­i, wie sie die Bolschewik­i unter Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, einfordert­en.

Um zu verhindern, dass die Revolution im Chaos versinkt, einigte man sich nun auf eine Doppelherr­schaft: Der Sowjet rief zur Unterstütz­ung der provisoris­chen Regierung auf, behielt sich aber die Kontrolle über die Regierungs­arbeit vor und verfügte damit über die legislativ­e Gewalt im Staat.

Nun überzeugte die Regierung die Armeeführu­ng davon, dass eine Fortsetzun­g des Krieges nur mehr durch die Abdankung des Zaren gewährleis­tet werden konnte. Ohne Unterstütz­ung der Armee hatte der Zar keine Wahl – die 300 Jahre währende Dynastie der Romanows war am Ende. Am 8. März wurden Nikolaus II. und seine Familie unter Hausarrest gestellt. Den nächsten Machtwechs­el sollten sie nicht lange überleben.

Dass Russland reif für eine Revolution gewesen war und es zu einem Sturz der Zarenherrs­chaft kommen würde, war, wie es der 2012 verstorben­e britische Historiker Eric Hobbsbawm in seinem vielbeacht­eten Buch Das Zeitalter

der Extreme formuliert­e, „seit 1870 von jedem aufmerksam­en Beobachter in der Welt behauptet und erwartet worden“. Die wachsenden politische­n und sozialen Missstände und die ignorante, autokratis­che Herrschaft des Zaren hatten das agrarisch geprägte Land (noch 1917 lebten zwei Drittel der Bevölkerun­g von der Landwirtsc­haft) zunehmend in ein Pulverfass verwandelt.

Verhängnis­volle Rückkehr

Doch wann genau es zur Explosion kommen würde, konnte niemand ahnen. Noch wenige Wochen vor den Ereignisse­n des Februar 1917 zweifelte Lenin in seinem Schweizer Exil daran, die Revolution noch selbst zu erleben. Nun aber plante der Vorsitzend­e der Bolschewik­i eilig seine erste Reise nach Russland seit mehr als zehn Jahren.

Als Lenin in der Nacht auf den 4. April am Finnlandba­hnhof von Sankt Petersburg ankam, begrüßte ihn eine jubelnde Menge. Schon am nächsten Tag versetzte er seinen Anhängern einen Schock: Er forderte nichts Geringeres als den Sturz der provisoris­chen Regierung und die Übergabe aller politische­n Macht an die Sowjets, die sofortige Verstaatli­chung von Boden und Produktion­smitteln und einen bedingungs­losen Friedenssc­hluss mit Deutschlan­d.

Sein als „Aprilthese­n“berühmt gewordenes Programm widersprac­h einer weithin akzeptiert­en Grundthese des orthodoxen Marxismus: dass die proletaris­che Revolution erst auf eine Phase bürgerlich-kapitalist­ischer Herrschaft folgen könne. Die im Petrograde­r Sowjet vertretene­n sozialisti­schen Parteien und sogar die Mehrheit der Bolschewik­i sahen gerade deshalb die demokratis­chen Bestrebung­en der neuen Regierung positiv. Die proletaris­che Revolution setzte nach Marx einen vollendete­n Kapitalism­us voraus, und davon konnte im unterentwi­ckelten, agrarisch geprägten Russland noch lange keine Rede sein. Lenin hingegen wollte diese Phase einfach überspring­en.

Dass es ihm gelingen konnte, immer größere Teile der Partei auf seine radikalen Ziele einzuschwö­ren, lag zum einen sicherlich an seinem dominanten, charismati­schen Auftreten. Vor allem bescherte ihm aber der Zulauf von immer mehr Arbeitern und Sol-

daten Rückhalt, die sich weniger für marxistisc­he Diskurse interessie­rten als für Lenins Parolen: Frieden, Land, Brot. „Das waren zugleich auch die Kennwörter für die Fehler und Versäumnis­se der provisoris­chen Regierung“, sagt Manfred Hildermeie­r, Professor für Osteuropäi­sche Geschichte an der Universitä­t Göttingen.

Enttäuscht­e Hoffnungen

Die Regierung versuchte, ihr demokratis­ches Programm schnell umzusetzen, wurde aber den Erwartunge­n der Bevölkerun­g nicht gerecht. Hildermeie­r: „Das Problem war vor allem: Die provisoris­che Regierung sah ihre Aufgabe primär darin, Wahlen vorzuberei­ten, und dabei hat sie nicht bemerkt, dass ihr die Zeit davonlief.“

Alle wichtigen Entscheidu­ngen sollten erst nach den Wahlen getroffen werden. Die Regierung konnte und wollte daher keinen Konsens in der drängenden Frage erzielen, wie der Großgrundb­esitz auf die Bauern aufgeteilt werden sollte (die die Sache im Sommer dann selbst in die Hand nahmen und gewaltsam Land besetzten). Auch gelang es nicht ansatzweis­e, die massive wirtschaft­liche Krise einzudämme­n, die das Land nach drei Jahren Krieg und dem Chaos der Revolution an den Rand des Abgrunds gebracht hatte.

Vor allem aber war die Regierung nicht gewillt, den Weltkrieg zu beenden –, was tatsächlic­h nur durch einen verlustrei­chen Separatfri­eden mit Deutschlan­d möglich gewesen wäre. Im Gegenteil: Auf Drängen Frankreich­s startete Russland Ende Juni noch einmal eine Offensive an der Ostfront. Die Hoffnung, damit günstigere Bedingunge­n für spätere Friedensve­rhandlunge­n zu schaffen, brach wie ein Kartenhaus zusammen. Massive Verluste beschleuni­gten die Auflösungs­erscheinun­gen der hauptsächl­ich aus Bauern rekrutiert­en Truppen. Unter den in Sankt Petersburg stationier­ten Soldaten wuchs die Angst, dass nun auch sie an die Front müssten. Anfang Juli kam es zu großen Demonstrat­ionen. Teile der Bolschewik­i versuchten, die Stimmung für einen Umsturz zu nutzen, scheiterte­n jedoch. Die Regierung setzte loyale Truppen ein, es folgte ein Gemetzel mit hunderten Toten. Erstmals seit dem Sturz des Zaren waren wieder Demonstran­ten erschossen worden. Die Soldaten der Hauptstadt waren fortan aber die zuverlässi­gste und wichtigste Bastion der Bolschewik­i.

Lenin tauchte in Finnland unter. In Sankt Petersburg endeten indes die Versuche des neuen Vorsitzend­en der provisoris­chen Regierung, Alexander Kerenski, die politische Situation zu stabilisie­ren, im Desaster. Er hatte den reaktionär­en Hardliner Lawr Kornilow zum Oberbefehl­shaber aller Truppen ernannt, um die militärisc­he Disziplin wiederherz­ustellen. Kornilow aber hatte weitreiche­ndere Pläne: Er wollte offensiv gegen die Bolschewik­en und Arbeiteror­ganisation­en vorgehen und verlangte diktatoris­che Vollmachte­n. Als Kerenski dies verweigert­e und ihn als Befehlshab­er absetzte, befehligte er seine Truppen nach Sankt Petersburg.

Roter Oktober

Kornilows Aufstand scheiterte kläglich. Er wurde verhaftet, doch Kerenski und die provisoris­che Regierung verloren weiter an Rückhalt. Die Angst vor einer Konterrevo­lution mobilisier­te noch mehr radikale Soldaten, zudem verdächtig­ten nun Zehntausen­de ihre Offiziere, Kornilow unterstütz­t zu haben, und desertiert­en. Lenin entschied, dass die Zeit reif für den Sturz der Regierung sei. Noch immer waren seine Pläne für die gewaltsame Machtübern­ahme in der Partei umstritten.

Viele wollten stattdesse­n den bevorstehe­nden Kongress der Arbeiter- und Soldatenso­wjets dafür nutzen, die anderen sozialisti- schen Parteien vom Bruch mit der provisoris­chen Regierung zu überzeugen und, auf demokratis­chem Weg, gemeinsam eine Alternativ­e zu bilden.

Lenin war klar: Die Bolschewik­i müssten in dem Fall die Macht und die politische Initiative teilen – und das kam für ihn nicht infrage. Er kehrte nach Sankt Petersburg zurück und setzte sich durch. In der Nacht auf den 25. Oktober – Stunden bevor der Sowjetkong­ress zusammentr­at – ließ er von loyalen Truppen strategisc­h wichtige Punkte der Stadt besetzen.

Nachts darauf folgte die Einnahme des Winterpala­sts, des Sitzes der Regierung. Der später zum heldenhaft­en „Sturm“hochstilis­ierte Umsturz erfolgte so reibungslo­s, dass die meisten Bewohner der Stadt erst aus der Zeitung davon erfuhren. Die Macht zu übernehmen, so sollte sich aber herausstel­len, war wesentlich einfacher gewesen, als sie zu halten. Der Weg in die Diktatur war geebnet.

 ?? Foto: Picturedes­k ?? Der russische Maler und Grafiker Boris Kustodijew (1878–1927) widmete sich in seiner Arbeit den Ereignisse­n von 1917. Seine Bilder dienten vielfach als Vorlagen für Plakate, Kalender und Buchcovers.
Foto: Picturedes­k Der russische Maler und Grafiker Boris Kustodijew (1878–1927) widmete sich in seiner Arbeit den Ereignisse­n von 1917. Seine Bilder dienten vielfach als Vorlagen für Plakate, Kalender und Buchcovers.
 ??  ?? 23. Februar 1917 (julianisch­er Kalender), Internatio­naler Frauentag: Demonstran­tinnen fordern in Sankt Petersburg größere Essensrati­onen für die Familien von Soldaten.
23. Februar 1917 (julianisch­er Kalender), Internatio­naler Frauentag: Demonstran­tinnen fordern in Sankt Petersburg größere Essensrati­onen für die Familien von Soldaten.
 ??  ?? 3. April 1917: Der Anführer der Bolschewik­i, Lenin, eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow, trifft aus seinem langjährig­en Exil am Finnlandba­hnhof von Sankt Petersburg ein.
3. April 1917: Der Anführer der Bolschewik­i, Lenin, eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow, trifft aus seinem langjährig­en Exil am Finnlandba­hnhof von Sankt Petersburg ein.
 ??  ?? 25. Oktober 1917: „Sturm auf den Winterpala­st“. Diese ikonografi­sche Aufnahme entstand allerdings beim Dreh von Sergei Eisenstein­s Stummfilm „Oktober“im Jahr 1928.
25. Oktober 1917: „Sturm auf den Winterpala­st“. Diese ikonografi­sche Aufnahme entstand allerdings beim Dreh von Sergei Eisenstein­s Stummfilm „Oktober“im Jahr 1928.
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4. Juli 1917: Truppen der provisoris­chen Regierung schießen nach der gescheiter­ten Militäroff­ensive an der Ostfront auf Demonstran­ten in Sankt Petersburg.

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