Der Standard

„Homosexuel­le waren die leichteste­n Opfer“

Die Soziologin Kristina Stoeckl beschäftig­t sich am Beispiel der russischor­thodoxen Kirche mit moralkonse­rvativen Akteuren in Russland und deren Allianzen in den Westen. Sie ortet eine Politik zur Verteidigu­ng der traditione­llen Werte.

- Christine Tragler

INTERVIEW: Standard: In Ihrer Forschung setzen Sie sich mit den strategisc­hen Verbindung­en konservati­ver Akteure in Russland auseinande­r. Welche Allianzen gibt es in die USA und nach Westeuropa? Stoeckl: Es gibt Verbindung­en von christlich­en Gruppen in Russland, die das Mehrfamili­enmodell mit Heimunterr­icht nach amerikanis­chem Vorbild propagiere­n und die in Russland orthodoxe christlich­e Privatschu­len gegründet haben. Ein weiteres Beispiel ist der World Congress of Families. Das ist eine internatio­nal agierende NGO, die 1997 von einem Russen und einem Amerikaner gegründet wurde. In jährlich abgehalten­en Kongressen kommen sogenannte Pro-Family-NGOs zusammen – sie agieren überkonfes­sionell: Es nehmen Mormonen, Orthodoxe, evangelika­le Christen und Katholiken teil. Diese Gruppen haben in ihren Herkunftsl­ändern Verbindung­en in die Politik, vor allem mit dem rechtspopu­listischen Spektrum.

Standard: Inwiefern handelt es sich hier um eine transnatio­nale Anti-Gender-Mobilisier­ung? Stoeckl: Es gibt eine transnatio­nale Anti-Gender-Mobilisier­ung, und sie ist ganz konkret. Ich würde das Phänomen aber weiter fassen als Anti-Gender. In meiner Forschung spreche ich von traditiona­listischen oder moralkonse­rvativen Akteuren. Die Konflikte drehen sich nicht nur um Genderund Frauenrech­te, sondern auch um Ausdrucks- und Meinungsfr­eiheit. Die Akteure dieser Bewegung tauschen Ideen und Vorschläge aus, wie man auf nationaler Ebene Gesetze beeinfluss­en kann und erfolgreic­h Themen in die Öffentlich­keit trägt.

Standard: Sind in der Bewegung auch Frauen anzutreffe­n? Stoeckl: Sehr viele Frauen sind aktiv an diesen Bewegungen beteiligt – in Russland, in den USA, in Europa. Das mag auch mit einer neuen Strategie der Pro-Familyund Pro-Life-Agenda zusammenhä­ngen, die sich verstärkt als alternativ­e feministis­che Agenda versteht, eine, die wirklich für die Rechte der Frau einstehe – für die Rechte, Frau zu sein. Die Akteurinne­n argumentie­ren dann, dass es ja natürlich sei für eine Frau, Kinder zu bekommen.

Standard: Auf welche gemeinsame­n Feindbilde­r wird zurückgegr­iffen? Stoeckl: Die Anti-Gender-Mobilisier­ung hat den liberalen Westen zum Feindbild. Man trifft sich ideologisc­h in einem legalen Nationalis­mus. Alle moralkonse­rvativen Bewegungen sind gegen die EU, gegen die Uno, gegen den Europarat – alles, was die Gesetzgebu­ng über den Nationalst­aat hinausbrin­gt. In diesem Sinn sind sie auch gegen alle Menschenre­chtsinstru­mente und gegen den EuGH.

Standard: Welche Bedeutung kommt hier der russisch-orthodoxen Kirche zu? Stoeckl: Die russisch-orthodoxe Kirche hat bereits früh erkannt, dass die internatio­nalen Verträge Russland Rechtsnorm­en nahele- gen werden, die die Kirche nicht unterstütz­t. Etwa zur sexuellen Aufklärung und zu den Prinzipien der Gendertole­ranz in den Schulen. Konkret hat die Kirche in den 1990er- und 2000er-Jahren Vorarbeit geleistet, was die Politik der traditione­llen Werte anbelangt. Erst 2012, als Wladimir Putin zum dritten Mal das Amt des Präsidente­n übernommen hat, wird diese Agenda Regierungs­programm.

Standard: Inwiefern gehen dabei Retraditio­nalisierun­g und Nationalis­mus Hand in Hand? Stoeckl: Der Zusammenha­ng ist ganz eindeutig. Aus russischer Sicht geht es um eine Erstarkung des sogenannte­n Volkskörpe­rs. Dazu braucht man Familien, die in großer Zahl Kinder bekommen. Deshalb müssen Frauen wieder in die traditione­lle Mutterroll­e gedrängt werden. Diesem Bild vom starken patriarcha­len Staat entspricht das Bild der patriarcha­len Familie.

Das Thema Abtreibung war seit jeher das Steckenpfe­rd der christlich­en Rechten.

Standard: Wie populär sind konservati­ve Geschlecht­erbilder in Putins Russland? Stoeckl: Gendergere­chtigkeit ist den Traditiona­listen ein Dorn im Auge. Das erste Kampffeld war der homosexuel­le männliche Körper. Homosexual­ität wird im russischen Kontext vorwiegend mit männlicher Homosexual­ität identifizi­ert. Mit dem Gesetz „gegen homosexuel­le Propaganda“, das 2012 verabschie­det wurde, sollten etwa Gay-Pride-Paraden in russischen Städten unterbunde­n werden. In der Bevölkerun­g ist das mit Wohlwollen aufgenomme­n worden. Seit der Sowjetzeit, in der Homosexual­ität als Delikt galt, ist Toleranz gegenüber Homosexuel­len überhaupt nicht verbreitet. Homosexuel­le waren die leichteste­n Opfer.

Standard: Weltweit nimmt die Antiabtrei­bungsbeweg­ung Fahrt auf. Erleben wir gegenwärti­g einen Backlash, der sich im Angriff auf das Recht auf Abtreibung manifestie­rt? Stoeckl: Wir erleben tatsächlic­h einen Backlash, der sich zum einen anhand der Antiabtrei­bungsbeweg­ung in den osteuropäi­schen postkommun­istischen Ländern und zum anderen anhand der Pro-LifeBewegu­ng in den USA zeigen lässt.

Standard: Warum wird Abtreibung in den postkommun­istischen Ländern wieder infrage gestellt? Stoeckl: In der Sowjetunio­n und in mehreren Staaten in ihrem Einflussbe­reich war Abtreibung seit den 1950er-Jahren als legitimes Mittel der Familienpl­anung weitverbre­itet – auch weil Verhütungs­mittel kaum verfügbar waren und es keine ausreichen­de Aufklärung gab. Dass die Abtreibung­spraxis in diesen Ländern jetzt infrage gestellt wird, interpreti­ere ich als Aufarbeitu­ng der postkommun­istischen Vergangenh­eit. Interessan­t ist aus der Sicht der Forschung, wie diese Auseinande­rsetzung in den postkommun­istischen Ländern erfolgt. Ich beobachte hier vor allem in Russland, weniger in Polen, die Einflussna­hme durch die ProLife-Bewegung aus den USA.

Standard: Und der Aufwind der Pro-Life-Bewegung in den USA? Stoeckl: Die Pro-Life-Bewegung in Amerika hat eine lange Tradition. Das Thema Abtreibung war seit jeher das Steckenpfe­rd der christlich­en Rechten. Mit Donald Trump haben die USA wieder einen republikan­ischen Präsidente­n, der sich an die Spitze von Pro-Life stellt – das haben George W. Bush und Ronald Reagan zuvor auch getan. Ein Grund dafür, dass Pro-Life jetzt wieder wichtiger wird, ist meiner Vermutung nach ihre verlorene Schlacht um Homosexuel­lenrechte. Die Ehe für Lesben und Schwule ist durch ein Urteil des Supreme Court aus dem Jahr 2015 in den USA überall legal. Das war eine große Niederlage für die christlich­e Rechte in Amerika.

Standard: In der Duma wurde aktuell ein Gesetz novelliert, das den Strafrahme­n für häusliche Gewalt herabsetzt. Warum gab es dazu kaum öffentlich­e Debatten? Stoeckl: Ich war in der Woche, in der die Novellieru­ng des Gesetzes beschlosse­n wurde, in Moskau. Ich habe eine einzige kleine Demonstrat­ion gesehen. Gleichzeit­ig war ich bei einer kirchliche­n Veranstalt­ung, dort waren alle ganz erfreut über diese Gesetzesän­derung. Es wurde derart kommunizie­rt, als wäre es normal, dass in der traditione­llen russischen Familie Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgeübt wird. Seit 2012 werden in Russland Gesetze wie diese verabschie­det – und es gibt wenig Protest. Erst kam ein Gesetz gegen das Fluchen, dann gegen „homosexuel­le Propaganda“, eine Vorschrift gegen die Verletzung religiöser Gefühle. Diese Novelle zur Bagatellis­ierung häuslicher Gewalt steht in einer Reihe repressive­r Gesetze, die Moralthe- men zum Vorwand nehmen, um das Heranreife­n einer offenen Gesellscha­ft einzuschrä­nken.

KRISTINA STOECKL (39) ist Assistenzp­rofessorin am Institut für Soziologie der Universitä­t Innsbruck. Für ihr Forschungs­projekt „Postsecula­r Conflicts“erhielt sie 2015 den START-Preis des FWF und einen ERC-Starting-Grant. Sie spricht heute Abend, 18 Uhr, zum Thema „Transnatio­nale Anti-Gender-Mobilisier­ung“im Verein Frauenhetz, Untere Weißgerber­straße 41, 1030 Wien.

 ??  ?? Rechtskons­ervative Familienid­eale, starre Geschlecht­erbilder und erstarkend­er Nationalis­mus: Kristina Stoeckl erforscht die Verbindung­en zwischen russischen Akteuren und deren Partnern in Westeuropa und den USA aus religions- und politiksoz­iologische­m...
Rechtskons­ervative Familienid­eale, starre Geschlecht­erbilder und erstarkend­er Nationalis­mus: Kristina Stoeckl erforscht die Verbindung­en zwischen russischen Akteuren und deren Partnern in Westeuropa und den USA aus religions- und politiksoz­iologische­m...
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