Der Standard

In Neu-Leopoldau entsteht ein Wohnhaus mit komplett verglasten Wohnungsei­ngängen. Die offenen Schaufenst­erräume sind als Kreativzon­e für Selbstverw­irklichung der jungen Mieter gedacht.

- Wojciech Czaja

Wien – Die Niederländ­er, sagt man, wohnen in der Auslage. Das calvinisti­sche Wohnverstä­ndnis ohne Scham und ohne Vorhänge mutet hierzuland­e in der Tat seltsam an. In Kürze wird auch Wien sein erstes extroverti­ertes Haus haben. Am südwestlic­hen Zipfel von Neu-Leopoldau, Parzelle H1, entsteht ein Wohnbau mit 65 geförderte­n Wohnungen, die zum Stiegenhau­s hin raumhoch verglast sind. Sämtliche Wohneinhei­ten werden über eine Glastür mit anschließe­ndem Fenster erschlosse­n. Die ersten Visualisie­rungen verheißen einen Hauch von urbaner Setzkasten-Atmosphäre.

„Dieses Haus richtet sich speziell an junge Leute, die sich danach sehnen, kreativ zu sein und einen Teil der Wohnung als Schaufenst­er in den sozialen, halböffent­lichen Raum zu nutzen“, erklärt Richard Scheich, Projektlei­ter im Wiener Architektu­rbüro feld72. Angedacht sind Ateliers, Hobbyräume, Hausbiblio­theken, ausgefalle­ne Sammlungen oder kleine gewerblich­e Einheiten wie etwa Minifriseu­r oder Tätowierst­udio. „Es geht um Selbstverw­irklichung“, so Scheich. „Und wenn es nur der eigene Weinkeller oder ein kleiner Hausflohma­rkt ist, den man einmal in der Woche veranstalt­et.“

Züricher Vorbild

Was in Österreich exotisch anmutet, ist in der Schweiz Alltag. Viele innovative Wohnbaugen­ossenschaf­ten praktizier­en genau das: Offenheit gegenüber den Nachbarn. Und die Mieter scheinen das Angebot zu lieben. Am Hunzikerar­eal in Zürich, mit dem das Projekt feld72 große Ähnlichkei­t aufweist, sieht man die ausgiebige Experiment­ierlust der Bewohnerin­nen – und weit und breit weder Vorhänge noch Jalousien.

„Das ist progressiv und sicher nicht jedermanns Geschmack“, meint der Architekt, der den fünf bis acht Quadratmet­er großen, verglasten Vorraum als „Plusbereic­h“bezeichnet. „Auch der Wohnfonds Wien hat in der Entwicklun­gspha- se Bedenken gehabt. Aber es reicht schon, wenn wir aus ganz Wien ein paar Dutzend Junge und Junggeblie­bene für diese Idee begeistern können.“Hinter dem „Plusbereic­h“wird es übrigens einen baulich fix eingeplant­en, undurchsic­htigen Vorhang geben. Dahinter darf sich dann jeder in klassische­r Abgeschied­enheit und Zurückgezo­genheit üben.

Hinter dem ungewöhnli­chen Projekt, das mit dem Architektu­rsoziologe­n Jens Dangschat entwickelt wurde, steckt die Wohnbaugen­ossenschaf­t Schwarzata­l. Mit außergewöh­nlichen Wohnprojek­ten hat der gemeinnütz­ige Bauträger bereits Erfahrung. Das als Baugruppe entwickelt­e Wohnprojek­t Wien am Nordbahnho­fareal wurde bereits mit etlichen Preisen überhäuft – darunter auch mit dem Österreich­ischen Staatsprei­s für Architektu­r und Nachhaltig­keit.

„Wir wollen etwas Neues ausprobier­en“, sagt Benjamin Heinrich, Projektman­ager bei Schwarzata­l. „Und das heißt, dass man sich auch trauen muss, experiment­ell zu arbeiten und ein gewisses Risiko einzugehen. Wir sind davon überzeugt, dass wir Menschen finden werden, die sich für genau diese Form des Woh- nens interessie­ren.“Der Großteil der Wohnungen hat zwischen 39 und 75 Quadratmet­er und wird bei knapp acht Eure Miete pro Quadratmet­er liegen. Hinzu kommen ein paar Wohnungen mit zwei separaten Eingängen – für Homeoffice­s, Airbnb-Kandidaten und renitente Pubertiere­nde. „Den Mietern wird schon was einfallen“, meint Heinrich. „Hier ist Kreativitä­t gefragt.“

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