Der Standard

„Regierung geriert sich als FPÖ light“

Kürzung der Familienbe­ihilfe, Schranken für EU-Bürger am Arbeitsmar­kt: Nimmt die Regierung in der Europapoli­tik einen Kurswechse­l auf blauen Spuren vor?

- Gerald John Günther Oswald

Christian Kern ist kein Europafein­d, Sebastian Kurz natürlich auch nicht. Der rote Bundeskanz­ler und der schwarze Außenminis­ter prägen aber einen neuen Kurs in der Europapoli­tik. Bevorzugun­g bereits in Österreich lebender Arbeitskrä­fte, Schranken für den Zugang zum Arbeitsmar­kt, niedrigere Familienbe­ihilfe für Kinder im EU-Ausland: Töne, die man lange nur von den Freiheitli­chen gehört hat.

„Heinz-Christian Strache kann zu Recht sagen: Die schauen bei mir ab, was sie tun sollen“, konstatier­t der Politologe Anton Pelinka: „Die Regierung gibt den Anspruch auf, Musterschü­ler in der EU zu sein, und geriert sich als FPÖ light.“Sein Kollege Peter Filzmaier spricht vom „Modell Landeshaup­tleute“, das sich von Tirol über Kärnten bis zum Burgenland bewährt habe. Frei nach dem Motto: „In Brüssel bin ich Europäer, sobald das Flugzeug zu Hause gelandet ist, bin ich vom Nationalst­olz geprägt.“

„Es gibt eine Tendenz weg von europäisch­er Solidaritä­t hin zu nationalem Egoismus“, urteilt Hannes Swoboda, Exchef der sozialdemo­kratischen Fraktion im Europaparl­ament: „Und die reicht leider auch in die SPÖ hinein.“

Angesichts der hohen Arbeitslos­igkeit sei es zwar legitim, über gewisse Grenzen nachzudenk­en, sagt der rote Veteran der Europapoli­tik, doch der europäisch­e Gedanke falle vollends unter den Tisch: „Auch die SPÖ traut sich nicht mehr zu sagen, dass Österreich von Altenbetre­uerinnen und anderen ausländisc­hen Kräften profitiert. Ich finde das traurig.“

Einspruch gab es auch auf schwarzer Seite. Othmar Karas, Delegation­sleiter der ÖVP im EUParlamen­t lieferte sich via Twitter zuletzt ein argumentat­ives Match mit Kurz. Der glühende EU-Anhänger warnte vor einer Diskrimini­erung von EU-Bürgern und vor Neiddebatt­en, erklärte den Konflikt kurz darauf aber für beendet. Auf Anfrage wollte sich Karas nun nicht mehr zu Wort melden.

In Wirtschaft­s- und Industriek­reisen kommt ein EU-kritischer Kurs zwar grundsätzl­ich nicht wahnsinnig gut an, die schwarze Zukunftsho­ffnung Kurz ist aber auch dort äußerst gut angeschrie­ben – und von Maßnahmen gegen Lohndumpin­g, die Österreich bereits Klagsdrohu­ngen aus Slowenien eingebrach­t haben (siehe unten), profitiere­n schließlic­h auch die heimischen Betriebe.

National handeln

Ein Verrat an Europa also? Jörg Leichtfrie­d reicht den Vorwurf weiter. Slowenien, Ungarn, Polen, die Slowakei und andere Staaten im Osten verhielten sich, als gäbe es „eine doppelte Mitgliedsc­haft“, sagt der Verkehrsmi­nister, der gemeinsam mit Altkanzler Franz Vranitzky an einem neuen Europaprog­ramm für die SPÖ schreibt: „Gibt es etwas zu holen, sind sie dabei, ist Solidaritä­t gefragt, verabschie­den sie sich.“Das reiche von der Unterwande­rung heimischer Sozialstan­dards durch entsendete Arbeitskrä­fte bis zum Ignorieren von Vorschrift­en im Güterverke­hr: „Wenn sich osteuropäi­sche Spediteure nicht an Fahrzeiten halten müssen, haben unsere Firmen einen Wettbewerb­snachteil.“

Österreich bemühe sich ja um EU-weite Regelungen, sagt Leichtfrie­d, doch die Oststaaten blockierte­n: „Deshalb müssen wir national handeln. Das ist nur verantwort­ungsbewuss­t.“Jüngster Schritt: Kern fordert, jenen Staaten EU-Gelder zu streichen, die sich gegen eine faire Aufteilung der Flüchtling­e wehren.

Ein Kurswechse­l sei das nicht, sagt Leichtfrie­d, sondern „Politik, die realistisc­her an die Interessen der Menschen anknüpft“. Das gelte gerade für die Sorge Nummer eins: „Wir können nicht ewig Arbeitslos­igkeit importiere­n.“

Die SPÖ halte mehr denn je das europäisch­e Prinzip hoch, findet auch Evelyn Regner, Fraktionsf­ührerin der SPÖ im EU-Parlament. Vom Kampf für gleiche Löhne am gleichen Ort profitiere genauso der estnische oder slowakisch­e Arbeiter, und auch der Beschäftig­ungsbonus stabilisie­re die Einkommen aller, indem der „Verdrängun­gswettbewe­rb“durch billigere Kräfte von außen gebremst werde.

„Ziel ist, die sozialen Unterschie­de in der EU einzuebnen“, sagt Regner. Warum die Regierung dann die Familienbe­ihilfe für Kinder im Osten kürzen will? Das versteht die Parlamenta­rierin auch nicht: „Die Indexierun­g ist nichts anderes als der Ausfluss einer Neiddebatt­e.“In der Koalition trägt die SPÖ das schwarze Vorhaben dennoch mit.

Für thematisch­en Nachschub dürfte gesorgt sein. Kurz hat seine Experten beauftragt, Reformvors­chläge für die Union auszuarbei­ten. Ein paar schlagzeil­entauglich­e Ideen, die während der EUPräsiden­tschaft 2018 forciert werden sollen, hat er bereits angedeutet: Es brauche eine Verkleiner­ung der EU-Kommission und weniger Kompetenze­n für Brüssel.

Warum das alles passiert, bringt Heidi Glück in einem Satz auf den Punkt: „Das ist die Vorbereitu­ng auf den nächsten Wahlkampf“, sagt die Politikber­aterin und langjährig­e Sprecherin von Exbundeska­nzler Wolfgang Schüssel.

Politologe Pelinka warnt freilich vor den Folgen: Aus Sicht der Koalitionä­re, die nicht europaweit, sondern in Österreich gewählt werden, sei der „taktisch motivierte Kurswechse­l“ja nachvollzi­ehbar, sagt er, „doch denken alle Regierunge­n so, geht Europa zugrunde“. Die Berufung auf die mangelnde Solidaritä­t im Osten bedeute: „Man macht die Politik von Orbán und Co zur eigenen Richtschnu­r.“

Längerfris­tig sieht auch Filzmaier die Gefahr, dass sich andere Staaten revanchier­en könnten – nur: „Bis zur nächsten Wahl, egal ob sie heuer oder 2018 stattfinde­t, kann das schon funktionie­ren.“Aus strategisc­her Sicht sei es für Rot-Schwarz jedenfalls gescheiter, „sich einen scheinbare­n Gegner von außen aufzubauen, als sich intern zu bekriegen“.

Aus VdBs Sieg nicht gelernt

Aber werden EU-skeptische Bürger am Ende nicht doch wieder das blaue Original wählen? Pelinka hält das für gut möglich. Er attestiert der Regierung eine „erstaunlic­he Lernverwei­gerung“in Hinblick auf das Beispiel der Präsidente­nwahl, bei der eine breite Allianz mit Hinweisen auf die Bedeutung Europas Alexander Van der Bellen zum Sieg verhalf: „Und jetzt tun SPÖ und ÖVP so, als wäre die FPÖ unschlagba­r.“

Heidi Glück bringt eine andere, für die Regierungs­parteien optimistis­chere Sicht der Dinge ein: Indem SPÖ und ÖVP das Europathem­a besetzen und auch konkrete Maßnahmen vorlegen, „bringen sie die FPÖ, die nichts umsetzen kann, in die Defensive“. Kurz, der hohe Beliebthei­tswerte aufweist, werde als „Europamini­ster“wahrgenomm­en, mit dem Thema Schutz des Arbeitsmar­ktes konzentrie­re man sich auf ein „sehr emotionale­s Thema“. Glück: „Die Frage, wer der Schmied und wer der Schmiedl ist, ist dann nicht mehr so eindeutig.“

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Der rote Kanzler Christian Kern und die schwarze Zukunftsho­ffnung Sebastian Kurz legen beide einen EU-kritischer­en Zugang an den Tag als ihre Vorgänger.
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