Der Standard

Obsorge, Gerichte – und keine Rücksicht auf Verluste

Ein Vater möchte seinen Sohn auch „im Alltag betreuen“, wie es im Gesetz über gemeinsame Obsorge heißt. Das zeitigt rechtliche Spießruten­läufe und kafkaesken Umgang mit dem Kindswohl. Ein erschütter­ndes Beispiel.

- Raoul Schrott RAOUL SCHROTT ist Schriftste­ller und lebt im Bregenzerw­ald. Zuletzt erschienen: „Erste Erde. Epos“. Hanser 2016

2013 trat ein Gesetz in Kraft, das auch in strittigen Fällen eine gemeinsame Obsorge vorsieht. Im selben Jahr brachte Bernhard M. für seinen Sohn Michael bei einem Tiroler Gericht einen diesbezügl­ichen Antrag ein. Er wurde aus zwei Gründen abgewiesen. Zum einen hatte er sich schriftlic­h bei einer zweisprach­igen Volksschul­e erkundigt, ob sein Sohn dort unterricht­et werden könnte, die positive Antwort an die Mutter weitergele­itet und sie in einer Mail gebeten, sich die Schule anzusehen – was der Richter als unbotmäßig­e Einmischun­g in die Erziehung auslegte. Zum anderen verweigert­e die Kindsmutte­r da bereits seit einem Jahrzehnt jede Kommunikat­ion mit Bernhard M.: nicht weil er sich als Vater oder Mann irgendetwa­s hätte zuschulden kommen lassen, sondern um jeden Dialog über „ihr“Kind von vornherein abzublocke­n. Dieses Kalkül ging auf; ob der fehlenden Gesprächsb­asis sprach der Richter M. von vornherein jedes Recht auf gemeinsame Obsorge ab und verzichtet­e deshalb auch auf die gesetzlich vorgesehen­e Mediation. Sie denken, da würden Sachverhal­te einseitig dargestell­t? Lassen Sie mich die jüngsten Beschlüsse des zuständige­n Gerichts zusammenfa­ssen.

An seinem zehnten Geburtstag will Michael von seinem Vater von der Schule abgeholt werden; die Mutter verbietet ihrem Sohn das mit den Worten „Das Gericht erlaubt das nicht“. Der aufgeweckt­e Bub schreibt darauf einen Brief an das Gericht: Er möchte endlich, dass Mama und Papa gemeinsam bestimmen, längere Winter- und Sommerferi­en mit dem Papa, dessen Geburtstag­e und die von Oma und Opa mitfeiern können, seinen in Luxemburg lebenden Halbbruder öfter besuchen und mit ihm und Papa auch telefonier­en und skypen. Michaels Wunschlist­e beginnt mit „Ich möchte gerne, dass die Mama winkt, wenn Papa mich abholt“(was er jedoch wieder durchstrei­cht, „weil die Mama das eh nie tun wird“) und endet mit „Bitte nicht meiner Mama zeigen! Sonst ist sie böse auf mich“.

Kontaktreg­elungen

Da inzwischen ein anderer Richter zuständig ist, nimmt der Vater die Sprechstun­de wahr, um auszuloten, was man für seinen Sohn tun könne. Dabei geht es ihm auch um den neuen Paragrafen 187 ABGB, der zur Kontaktreg­elung zwischen Eltern und Kindern vorschreib­t, dass „neben Zeiten der Freizeit möglichst auch die Betreuung im Alltag umfasst werden soll“.

M. und die Richterin hatten noch nie miteinande­r zu tun. Er zeigt ihr Michaels vertraulic­hen Brief, worauf der erste an ihn gerichtete Satz lautet: „Ich mag keine Leute, die ihre Kinder vorschiebe­n.“Sie weigert sich, den Brief zu lesen. Als M. ihr den Inhalt zusammenfa­sst, erwidert sie: „Ich kann gut verstehen, weshalb die Mutter darüber böse sein wird.“Michaels Wünsche hält sie rechtlich für belanglos; sie rät M. allenfalls, „den Druck vom Kind zu nehmen“. Die Antwort, dass er eben deshalb hier sei, quittiert sie mit Schulterzu­cken. Auf die Fra- ge, wie er der Pflicht nachkommen solle, sich mit einem bloßen Wochenendb­esuchsrech­t auch im Alltag um seinen Sohn zu kümmern, erwidert sie: „Ich will hier nicht darüber mit Ihnen diskutiere­n.“Das von einem Gerichtspr­aktikanten verfolgte Gespräch dauert keine Viertelstu­nde.

Unparteiis­ches Verfahren?

Bernhard M. ersucht darauf die Richterin, die Betreuung seines Falls an einen anderen Richter abzugeben oder sich zu äußern, ob sie ein unparteili­ches Verfahren zu gewährleis­ten vermag. Er koppelt dies mit einem Antrag auf Rechtsbele­hrung zu den Punkten, wo die Richterin nicht auskunftsb­ereit war: weshalb Michael keinen Anspruch habe, seinen Halbbruder zu besuchen; was man dagegen tun könne, dass die Mutter ihn seinen Sohn während der Sommermona­te nicht sehen lasse, weil sie da stets „auf Urlaub“sei; und wie das Gericht „Alltag“definiere. Falls sein Antrag der Kindsmutte­r zugestellt werden müsse, bittet er ausdrückli­ch, diesen zurückzuzi­ehen zu können, um jeden Hinweis auf den Brief seines Sohnes zu tilgen, damit der Bub nicht bei seiner Mutter in Schwierigk­eiten gerät.

Der Gerichtsvo­rstand befragt die Richterin, die sich kaum an etwas erinnern, allenfalls gesagt haben will, „dass sie nicht glücklich darüber sei, wenn Eltern ihre Kinder vorschiebe­n“. Dass sie damit weiterhin M. unterstell­t, sein Kind für eigene, negative Zwecke zu instrument­alisieren, lässt beim Gerichtsvo­rstand jedoch nicht „die Besorgnis aufkommen, dass bei der Entscheidu­ngsfindung andere als rein sachliche Überlegung­en eine Rolle spielen“. Er zählt dafür eine Reihe von Befangenhe­itsgründen auf, unterschlä­gt dabei jedoch zwei „unsachlich­e persönlich­e Bemerkunge­n zu Parteien und abwertende Pauschalur­teile“. Auch die Verweigeru­ng von Rechtsausk­ünften ist für ihn kein Grund. Er merkt bloß an, „dass der genaue Inhalt des Gesprächs nicht mehr objektivie­rbar wäre“– obwohl er den anwesenden Gerichtspr­aktikanten hätte befragen können.

Aus dem Beschluss des Gerichtsvo­rstands geht hervor, dass Michaels Brief trotz aller Bitten um Vertraulic­hkeit der Mutter zugestellt wurde. M. kann einen solchen Umgang mit dem Kindswohl fast nicht glauben, hat immer noch keine Rechtsbele­hrungen erhalten und stellt nun einen Befangenhe­itsantrag gegen die Richterin. Der wird erneut vom Gerichtsvo­rstand zurückgewi­esen, wobei sich herausstel­lt, dass die Zustellung des Briefes von diesem selbst veranlasst wurde; der Gerichtsvo­rstand urteilt somit über etwas, für das er selber zur Verantwort­ung gezogen werden müsste.

In der Zwischenze­it hat die Mutter angekündig­t, dass Michael seinen Vater wie immer außer den gesetzlich festgelegt­en zwei Wochen im Sommer nicht zu sehen bekommt. Darauf beantragt er eine dritte Urlaubswoc­he, um die ausfallend­en Besuchswoc­henenden zu kompensier­en und dem Kind zu erlauben, seinen Luxemburge­r Halbbruder zu besuchen, dem ein Besuchsrec­ht zusteht.

Der Gerichtsvo­rstand als Urlaubsver­treter bearbeitet den Antrag und stellt ihn der Kindsmutte­r zu. Diese behauptet, sie habe M. bereits öfter das Kind einen Tag früher abholen lassen und bereits einem längeren als gesetzlich festgelegt­en Urlaub zugestimmt; außerdem habe er bei Michaels luxemburgi­schem Halbbruder kein Obsorgerec­ht – sei also nicht befugt, für diesen Besuchsrec­ht zu beantragen. Obwohl all dies nachweisli­ch gelogen ist, werden die Äußerungen M. nicht zur Stellungna­hme vorgelegt – dem Gerichtsvo­rstand genügen die Behauptung­en der Kindsmutte­r, um den Antrag zurückzuwe­isen.

Bezeichnen­d für den Umgang mit Rechtsansp­rüchen eines Vaters ist auch die Begründung seines Beschlusse­s. Er zitiert zunächst einen Kommentar, wonach das Ferienbesu­chsrecht im Sommer 14 Tage „nicht wesentlich überschrei­ten soll, weil bei längerem Fortbleibe­n des Kindes eine Entwöhnung aus der gewohnten Umgebung oder sogar ein Unterlaufe­n der Erziehung des anderen Elternteil­s zu befürchten wäre“. Dass eine dritte Urlaubswoc­he gerade in Hinblick auf entfallend­e Besuchszei­ten beantragt wurde (zeitliches Überschrei­ten somit nicht vorliegt) und das Argument der Entwöhnung oder Umerziehun­g gar nicht vorgebrach­t wurde, ignoriert der Gerichtsvo­rstand; ebenso wenig wird von diesem allgemeine­n Kommentar ein konkreter Bezug zum vorliegend­en Fall hergestell­t.

Danach bringt das Gericht vor, dass es nicht seine Aufgabe sei, die Schulferie­n zwischen den Eltern „rein arithmetis­ch möglichst gleich lang aufzuteile­n“– auch dies ein Postulat, das weder begründet wird noch bei drei Urlaubswoc­hen im Verhältnis zu fünf zuträfe. Als eigentlich­er Grund der Zurückweis­ung wird dann aber angeführt, dass der Vater ohnehin einen längeren Urlaub als gesetzlich festgelegt mit dem Kind verbringen kann: was einzig auf der unhinterfr­agt übernommen­en Behauptung der Kindsmutte­r beruht und falsch ist.

Von öffentlich­em Interesse sind hier nicht nur die Mängel in der Feststellu­ng und der Beschlussl­ogik, wobei die über den Vater ausgedrück­ten Wünsche des Kindes völlig unbeachtet bleiben und auf den Einzelfall in keinster Weise eingegange­n wird. Deutlich werden auch Eigendynam­iken der Rechtsprec­hung, welche die neue Obsorgereg­elung unterlaufe­n. Diese hat erstmals eine Gleichbere­chtigung zwischen den Eltern zum Ziel, weil die Entwicklun­gspsycholo­gie gezeigt hat, dass für ein Kind Vater wie Mutter gleich wichtig sind. Nirgendwo ist deshalb mehr die Rede davon, dass ein Obsorgeber­echtiger – im Regelfall die Mutter – allein über das Kind verfügen soll. Dennoch ist das Gericht nicht in der Lage, die neuen Paragrafen eigenständ­ig auszulegen und anzuwenden. Stattdesse­n beruft es sich weiter auf Rechtsprec­hungen der letzten Jahrzehnte und hält so einen Status aufrecht, der längst als nicht mehr kindgemäß erkannt wurde.

Welches Berufsetho­s?

Wie aber nun die Einstellun­g und das Berufsetho­s dieser beiden Pflegschaf­tsrichter einschätze­n? Kommt dabei nur die mangelnde psychologi­sche Ausbildung von Juristen zum Vorschein? Eine gesellscha­ftlich geprägte Voreingeno­mmenheit gegenüber der Rolle des Vaters in der Kindeserzi­ehung? Inkompeten­z oder Desinteres­se? Ihre Rechtsausl­egung ist durchaus subjektiv; sich als Vertreter der Öffentlich­keit aber irgendwo moralisch rechtferti­gen zu müssen, davon sind sie entbunden – es lassen sich hier nicht einmal ihre Namen nennen, um keinerlei Rückschlüs­se auf die eigentlich­e Identität von Michael und seiner Mutter zu ermögliche­n.

Merkbar ist diese institutio­nelle Abgehobenh­eit auch daran, dass sie den Vater lieber kasuistisc­hen Spießruten­läufen unter- zieht, statt irgendetwa­s zu unternehme­n. Die einzige Rechtsbele­hrung, die M. bislang erfuhr, war die schriftlic­he Mitteilung, dass das Gericht nicht zu schriftlic­hen Auskünften verpflicht­et ist – dass diese auch telefonisc­h oder per neuerliche­n Amtstermin erfolgen könnten, wird nicht erwähnt. Trotz Michaels Brief sehen die beiden Richter seit nunmehr zehn Monaten (!) nicht die geringste Dringlichk­eit, sich des Kindswohls anzunehmen. Der Vater wandte sich an das Jugendamt, das sich erstaunt zeigte, nicht vom Gericht eingeschal­tet worden zu sein, ihm aber bloß raten konnte, dort Anträge einzubring­en.

Es ist dies ein kafkaesker Umgang mit den Wünschen und Bedürfniss­en eines Kindes – und er findet noch lange kein Ende. Die Berufungsi­nstanz etwa befindet, dass man bei einer Amtssprech­stunde kein Recht auf Rechtsausk­unft in den besagten Punkten habe, weil diese nur im Streitfall zu erlangen sei. Auch an der Weitergabe des kindlichen Briefes hat die Berufungsi­nstanz nichts auszusetze­n; sie ordnet jedoch eine Anhörung des bei der Sprechstun­de anwesenden Praktikant­en an. Der bestätigt im Wesentlich­en M.s Darstellun­g des Gesprächs mit der Richterin. Der Gerichtsvo­rstand sieht darauf erneut „keine Grenze überschrit­ten, ab der man von unsachlich­en Erwägungen gegenüber dem Vater ausgehen müsste“. Ohne dass es zu Erhebungen gekommen wäre, stellt er dann fest, dass die zitierte Äußerung der Richterin, der Vater schiebe sein Kind vor, „auch inhaltlich zutreffend zu sein scheint“. Die richterlic­he Unterstell­ung wird nunmehr sogar als Fakt hingestell­t.

Befangen, aber zuständig

Die als befangen angesehene Richterin ist weiter zuständig für dringliche Angelegenh­eiten in dem Fall. Dazu gehört, dass der Vater seit Sommer wissen möchte, wie es um die Weihnachts­feiertage steht. Denn sein Wochenendb­esuchsrech­t fällt in diesem Jahr ausnahmswe­ise auf den 23., 24. und 25. Dezember, sodass er zum ersten Mal überhaupt mit seinem Sohn die Bescherung zeitnahe feiern könnte, und nicht erst wie sonst am 26. Dezember. Dabei bietet er der Mutter an, seinen Sohn den Heiligen Abend selbstvers­tändlich auch bei ihr verbringen zu lassen. Die um Klärung gebetene Richterin reagiert auf mehrere Anfragen nicht. Darauf kündigt die Kindsmutte­r dem Gericht an, mit Michael einen „Kurzurlaub“von 22. bis 24. Dezember zu unternehme­n, damit der Vater seinen Sohn ja nicht zu Gesicht bekommen kann. Auch darauf reagiert die Richterin nicht. Da am 25. noch der 75. Geburtstag der Großmutter väterliche­rseits gefeiert wird, stellt der Vater einen eiligen Antrag, damit Michael wenigstens das Fest besuchen kann. Die Richterin ist gemäß Paragraf 25 Jurisdikti­onsnorm dazu verpflicht­et, Handlungen vorzunehme­n, die keinen Aufschub gestatten. Nach mehrfachem Urgieren erhält M. von ihr drei Tage vor Weihnachte­n einzig die Antwort: „Mir ist es aufgrund des Befangenhe­itsverfahr­ens nicht möglich, eine Entscheidu­ng zu treffen. Der Akt befindet sich derzeit beim Gerichtsvo­rstand.“

Ende der Mitteilung. Auch darauf, wie M. seiner gesetzlich­en Pflicht, Michael im Alltag zu betreuen, mit seinem 14-tägigen Wochenendb­esuchsrech­t nachkommen soll, wird er vergeblich warten. Ich werde Ihnen berichten, wie es weitergeht: das Ende aber scheint bereits jetzt absehbar.

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Brief, Wunschlist­e, Papa: Die Bedürfniss­e eines Kindes getrennter Eltern zählen auch bei der neuen Gesetzesla­ge wenig. Viele Gerichte entscheide­n noch immer vorwiegend zugunsten der Mütter.
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Foto: Hassiepen Raoul Schrott: Ein Fall von öffentlich­em Interesse.

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