Kranke Kinder stören Japans „Wied deraufbau“
Die wachsende Zahl an Kindern und Jugendlichen in Fukushima, die an Schilddrüsenkrebs erkranken, will der japanische Staat nicht als Folge der Katastrophe vor sechs Jahren anerkennen. Für den Zuwachs machen die Behörden Massenuntersuchungen verantwortlich
Stark wirkt sie, diese junge Japanerin. Selbstsicher. Aber als sie über ihren Krebs spricht, werden die Augen feucht, die Stimme beginnt zu zittern. „Mein Arzt meint, dass die radioaktive Strahlung nicht die Ursache dafür ist. Aber was soll es sonst gewesen sein?“, sagt die heute 22-Jährige aus Koriyama in der Präfektur Fukushima dem USDokumentarfilmer Ian Thomas Ash. Als Erste von inzwischen 185 Jugendlichen und Kindern in Fukushima, die bei der Atomkatastrophe am 11. März 2011 unter 18 Jahre alt waren und danach an Schilddrüsenkrebs erkrankten, hat sie vor einem Jahr öffentlich vor einer Kamera über ihr Leiden gesprochen.
Aber ihr Mut wurde nicht belohnt. Die japanischen Medien ignorierten ihren Auftritt in der Doku A2-B-C, kein anderer Krebspatient aus Fukushima folgte ihrem Beispiel. Lediglich zwei Väter meldeten sich einmal in einer Videoschaltung zu Wort, jedoch mit verzerrter Stimme und ohne ihr Gesicht zu zeigen. Sie berichteten von dem Druck, unter dem die Angehörigen stünden. „Ich kann niemandem erzählen, dass mein Kind an Krebs erkrankt ist“, klagte einer von ihnen. Denn Gesellschaft und Politik in Japan wollen die Katastrophe, die sich vor nunmehr sechs Jahren ereignet hat, hinter sich lassen und sich lieber auf den Wiederaufbau konzentrieren.
Bei der Vergabe der Olympischen Spiele 2020 an Tokio vor dreieinhalb Jahren versicherte Regierungschef Shinzo Abe der Welt, das AKW Fukushima sei unter Kontrolle. Seitdem laufen die Stilllegung der Reaktoren (siehe Text
rechts oben) und die Rückbesiedlung der Evakuierungszone auf Hochtouren.
Japans Opposition schweigt
Auch die Opposition im Land fasst das Thema nicht an, weil sie damals selbst regierte und schwere Fehler machte: Zum Beispiel versäumte sie das Verteilen von Jodtabletten und schickte AKWAnwohner versehentlich in radioaktive Wolken hinein. So kümmert sich heute niemand um die Krebskranken in Fukushima. „Die Patienten gelten als Störer des Wiederaufbaus und sind in der Gesellschaft isoliert“, sagt Hisako Sakiyama, die 77-jährige Gründerin des Hilfsfonds 3/11 Fund for Children with Thyroid Cancer, zum STANDARD.
Doch die gesundheitliche Lage in Fukushima ähnelt immer mehr jener in Tschernobyl. Die Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern und Jugendlichen sei 20- bis 50-mal höher als in nicht verstrahlten Gebieten in Japan, berichtete der Epidemiologe Toshihide Tsuda (siehe Wissen rechts). Sein Team wertete die Daten der 2011 begonnenen Ultraschall-Untersuchungen der Schilddrüsen der meisten Kinder und Jugendlichen in Fukushima aus. Eine zweite Parallele ist die im Laufe der Zeit steigende Zahl von Krebsfällen, eine dritte ihre anomale Verteilung: Ähnlich wie in Tschernobyl ist fast die Hälfte der Patienten männlich, während Schilddrüsenkrebs normalerweise eine Frauenkrankheit ist.
Doch die japanische Regierung leugnet weiter jeden Zusammenhang zwischen Strahlung und Krebs: Die Menge an ausgetretenem radioaktivem Material in Fukushima sei deutlich kleiner als in Tschernobyl gewesen und die Umgebung schneller evakuiert worden. Die Gesundheitsuntersuchungen bleiben auf Fukushima be- schränkt, obwohl auch andere Gebiete verstrahlt wurden. Ein Papier der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit der Warnung vor leicht steigenden Schilddrüsen-, Blut- und Brustkrebszahlen in höher verstrahlten FukushimaBezirken wurde nie ins Japanische übersetzt. Stattdessen berufen sich die Beamten auf eine Prognose des UN-Komitees zu den Effekten atomarer Strahlung (UNSCEAR), wonach es nicht mehr Krebsfälle geben werde.
Die unerwartet hohe Zahl von inzwischen 185 Fällen von Schilddrüsenkrebs erklärten die Behörden als eine Folge der Massenuntersuchung. Dabei seien Tumoren entdeckt worden, die ohne Screening nie gefunden worden wären. „Es ist schwer vorstellbar, dass die Krebsfälle auf die radioaktive Strahlung zurückzuführen sind“, heißt es im Zwischenbericht des Fukushima-Aufsichtskomitees von Ende März 2016. Für diese frühe Bewertung hat Hilfsfonds-Gründerin Sakiyama, selbst eine Zellbiologin, nur eine Erklärung: „Die Regierung will keine Verantwortung für den AKW-Unfall übernehmen und mit der Atomkraft weitermachen.“
An echter Aufklärung scheinen die Behörden kaum interessiert zu sein. Das Screening der Schilddrüse ist freiwillig. Die Beteiligung sank von 82 Prozent in der ersten Runde auf 45 Prozent beim zweiten Durchgang. Die Untersuchungen finden lediglich alle zwei Jahre statt. In Tschernobyl geschieht dies zweimal jährlich.
Experte verlässt Komitee
Die Operationen dürfen nur an bestimmten Krankenhäusern stattfinden, sonst werden die Kosten nicht übernommen. So behält das Aufsichtskomitee die Kontrolle über alle Krebsdaten. Doch dort sitzen keine unabhängigen Fachleute mehr. Der einzige Schilddrüsenexperte, Kazuo Shimizu, zog sich im Oktober 2016 zurück und distanzierte sich von der Komitee-Meinung, die Strahlung sei für den Krebs nicht verantwortlich. Die hohe Rate widerspreche seiner klinischen Erfahrung, sagte der Arzt, der seit vielen Jahren Schilddrüsenkrebspatienten in Tschernobyl behandelt.
Der japanische Staat hat sich immer wieder kaltherzig zu seinen Bürgern verhalten, um sich aus der Verantwortung zu stehlen.
Das erlebten bereits Atombombenopfer, Minamata-Geschädigte (Quecksilbervergiftete), zwangssterilisierte Leprakranke und die Angehörigen von Blutern, die an HIV-verseuchten Arzneien starben. Meistens dauerte es viele Jahre, bis die Zahl der Opfer so groß wurde, dass sie sich selbst organisieren und ihren Protest hörbar formulieren konnten. Dieser Prozess hat in Fukushima gerade erst begonnen. Noch ist die Zahl der Betroffenen relativ überschaubar. Jedoch rechnet Epidemiologe Tsuda für die nächsten Jahre mit mehr Krebsfällen.
Das Mitgefühl nimmt schon jetzt zu: Der Hilfsfonds für die Krebskinder wird von mehreren Prominenten, darunter der konservative Expremier Junichiro Koizumi, unterstützt und sammelte in wenigen Monaten umgerechnet weit über 200.000 Euro. 66 Familien wurde bereits mit jeweils bis zu 1700 Euro geholfen. Zudem hinterfragen erste Betroffene das Argument der Behörden, viele Tumoren wären früher weder gefunden noch behandelt worden. Empörte Eltern wandten sich in einem offenen Brief an den Vorsitzenden des Aufsichtskomitees: „Wie viele
der Operationen waren unnötig? Gab es Übertherapien und Behandlungsirrtümer?“Ihre Fragen wurden nie beantwortet. Neues Fachgremium kommt
Die Erklärungsnöte der Behörden sind inzwischen so groß geworden, dass sie ihre Strategie geändert haben: Das Aufsichtskomitee beschloss im Februar, ein neues Fachgremium einzusetzen. Es soll wissenschaftlich „neutral“ein für alle Mal feststellen, dass die Krebsfälle nicht durch radioaktive Strahlung verursacht wurden. Dann hätte man einen Grund, die Zahl der Untersuchungen zu verringern. Und dadurch, so der Plan dahinter, würden auch die Krebsdiagnosen zurückgehen, und die Debatte hätte sich erledigt.
Möglicherweise kommt dieser Vorstoß zu spät. Experten wie Shimizu und Tsuda fordern die Fortsetzung der Datensammlung. Und in den Regionen Tochigi und Chiba nördlich und südlich von Fukushima sind die Stimmen von besorgten Müttern so laut geworden, dass nun auch dort die Schilddrüsen von Kindern und Jugendlichen kostenlos untersucht werden.