Der Standard

„Ich sollte längst vor die Hunde gegangen sein“: Der Berliner Schriftste­ller über sein Schreiberl­ing-Dasein

- Peter Wawerzinek

INTERVIEW: Standard: In Ihrem Roman „Fische und Drachen“begegnen einander die christlich­e Kultur, symbolisie­rt durch die Fische, und die chinesisch­e, symbolisie­rt durch die Drachen. Was inspiriert­e Sie? Radzevičiū­tė: Den Anstoß gab eine merkwürdig­e Darstellun­g auf einer Schwarz-Weiß-Abbildung eines Gemäldes. Ich hatte sie in einem Band über die Geschichte Chinas entdeckt. Sie zeigte eine Chinesin in mittelalte­rlicher Rüstung mit Helm und Speer. Es war ein rätselhaft­es Bild. Die Chinesin war dargestell­t wie der heilige Georg. Das war der christlich­e Märtyrer und Drachentöt­er. Darum wirkte das Bild in dem chinesisch­en Geschichts­buch so fehl am Platz. Der Drache ist das Symbol des Kaisers von China. Er steht für Kraft und Erfolg. Diese seltsame Abbildung brachte mich auf die Idee zu einem Roman über den Zusammenpr­all zweier Kulturen.

Standard: Im Roman lassen Sie Ihre Leser dann auch die Entstehung des Gemäldes miterleben … Radzevičiū­tė: Es dauerte einige Zeit, bis ich diese Umstände herausbeka­m. Ich habe Kunstgesch­ichte studiert. Aber ich hatte keine Ahnung, wer es gemalt haben könnte. Unter dem Bild befand sich kein Name. Nur die Dynastie war vermerkt, unter der es entstanden war. Erst nach langer Suche im Internet und in anderen Büchern fand ich ihn. Es war der italienisc­he Maler und Jesuitenpa­ter Giuseppe Castiglion­e. Er war Anfang des 18. Jahrhunder­ts gemeinsam mit einer Gruppe portugiesi­scher Jesuitenmi­ssionare nach China gekommen, um den Kaiser zum Christentu­m zu bekehren. Zunächst bestand seine Aufgabe darin, die Wände und Decken der chinesisch­en Kirchen in China zu bemalen. Dann aber wurde er an den Kaiserhof geholt.

Standard: Die chinesisch­e Kultur sei wie ein poröser Schwamm. Sie sauge alles Neue auf, verändere sich aber selbst nicht, heißt es im Roman. Wurde Castiglion­e von der chinesisch­en Kultur vereinnahm­t? Radzevičiū­tė: Castiglion­e wurde zum Hofmaler des Kaisers ernannt und bekam sogar einen chinesisch­en Namen: Lang Shining. China ist das Land, in dem die christlich­e Kultur ihre erste Niederlage erlitt. Fünf Jahrzehnte wirkte Castiglion­e am Kaiserhof, was sich in einer Reihe seltsam anmutender Gemälde niederschl­ug.

Standard: Sie verwiesen darauf, dass die christlich­e Kultur öfter in der Geschichte mit anderen Kulturen zusammenpr­allte. Das kostet Menschenle­ben. Aber führte es nicht zu einer ungeheuren kulturelle­n Bereicheru­ng des Westens? Radzevičiū­tė: Sie denken, kulturelle­r Reichtum sei diese Kosten wert? Eine typisch deutsche Sichtweise!

Standard: „Schon längst lachen alle über den Pavillon von Friedrich dem Großen in Sanssouci, ein ‚chinesisch­er‘ dreiblättr­iger Klee“, schreiben Sie. Wie deuten Sie die Begeisteru­ng für chinesisch­e Kunst an europäisch­en Herrscherh­öfen? Radzevičiū­tė: Es waren eigentümli­che Wege des Austauschs kulturelle­r Vorstellun­gen, die sich da zwischen Ost und West auftaten. Castiglion­e war nicht allein. Es waren noch andere europäisch­e Maler am chinesisch­en Kaiserhof tätig. Einer war der französisc­he Jesuitenpa­ter Jean Denis Attiret, der ein Buch über chinesisch­e Architektu­r verfasste. Ihre Bilder und Skizzen chinesisch­er Bauwerke und Gärten fanden in Europa Verbreitun­g. Auch am Hof Friedrich des Großen erlangte man davon Kenntnis. Der Pavillon in Sanssouci entstand nach Skizzen von Friedrich selbst.

Standard: Wenn die Menschenre­chte in China nicht eingeschrä­nkt wären, würden die Chinesen Europa verschling­en „wie ein Drache einen Schwarm Fische“, steht im Roman geschriebe­n ... Radzevičiū­tė: Dahinter steckt eine wahre Begebenhei­t. In einem Gespräch mit dem chinesisch­en Premiermin­ister bemerkte ein deutscher Minister einmal kritisch, dass es in China keine Menschenre­chte gebe. Darauf erwiderte der Premiermin­ister, dass dies zum Wohle Europas sei. Denn wenn die Chinesen Menschenre­chte hätten, wüssten sie um die Mög-

Am Beginn ist das Gefühl, dass man weiter schreiben wird, als ein Mensch gehen kann, einem alles erlaubt ist und gelingen wird, und dann beginnt einen die Schreibmot­ivation am langen steifen Arm zu halten, und man droht an ihm zu verhungern, ein Weh-oh-wehe-mir-Wegweiser zu werden. Deswegen irren wir Schreiberl­inge so seltsam umständlic­h herum, irren im Gedankenkr­eis, als Außenseite­r, Einzelgäng­er. Es heißt, man lernt vor der Vergangenh­eit schon die Gegenwart kennen, die Zukunft findet in der Fremde statt. Aufrühreri­sche Gedanken tun not und zersetzen Stahl. Die entfesselt­e Hand greift nicht sofort nach dem Stift. Um anzuklagen, zu beweinen, braucht lichkeit, überall leben zu können, wo sie wollten.

Standard: Ein zweiter Strang Ihres Romans nimmt eine ironische Brechung des historisch­en Geschehens vor. Chinesisch­e Weisheiten werden in europäisch­e Alltagsges­präche überführt. Haben Sie es erst den Pinsel, danach das Schwert. Man wird nicht von heute auf morgen ein Lautsprech­er, wie man nicht zum Schwätzer wird, nur weil man den Leuten die Worte aus ihren Rachen zerrt. Und dann wird es irgendwann unübersich­tlich. Es werden sehr viele Leser. Ich habe keinen Überblick mehr. Es kommen keine Reaktionen mehr. Das übernimmt die Presse.

Die eine leidvolle Erfahrung

Die aber ist nicht wirklich mein Adressat. Die spare ich von vornherein aus. Ich bin ihr Futter. Der Ruhm macht mich nachdenkli­ch. Denn ich denke immer, wieso musste ich erst die eine leidvolle Erfahrung machen, um dann von der anderen, ebenso leidvollen Erfahrung heimgesuch­t zu werden? darum Ihren Roman eine literarisc­he Chinoiseri­e genannt? Radzevičiū­tė: Chinoiseri­e bezeichnet die Nachahmung wirklicher Schönheit chinesisch­er Kunst. Eine junge Frau, die aus ihrem Doktoratss­tudium flog, ist die Autorin des Buches über das alte China. Sie ist gezwungen, mit ihrer Mutter, der Großmutter und ihrer Schwester in einer Wohnung zu leben. Die Schwester ist Business-Studentin. Die Mutter schreibt erotische Romane und verstrickt sich in eine Liebesaffä­re. Die Großmutter ist charismati­sch, aber von schlechtem Charakter. Die vier haben unterschie­dliche Lebensauff­assungen und tun sich schwer, es miteinande­r auszuhalte­n. Es herrschen keine idealen Bedingunge­n, um ein Buch zu schreiben. Die Autorin erschafft eine komplexe Welt der Qing-Dynastie, während sie in der zeitgenöss­ischen Welt einer europäisch­en Familie lebt. Haben sich die Umstände und Leute verändert? Ich habe mit dem Spaß am Vergnügen nicht sehr viele Leute erreicht. Nun mache ich es umgekehrt. Nun habe ich am Vergnügen Spaß, und die Leute lesen mich, als hätten sie Spaß an mir und meinen Texten.

Ich lese mich gern. Ich lese gern über mich. Ich sehe mich gern. Ich sehe mir gern Bilder von mir an. Ich mag mich. Ich mag Leute, die schreiben, dass sie sich mögen. Ich kann aber auch genau das Gegenteil empfinden. Dann stören mich die wohlmeinen­den Kommentare, ich sehe sie mir nicht einmal mit der halben Backe an, mein Interesse dafür, was über mich geschriebe­n steht, ist vorbei und ausgestand­en. Und dann ändert sich diese Haltung, und die alte Leier spult auf den Ausgangs- Standard: In dieser einfachere­n Welt ist allerdings alles verklausul­iert. Die Gespräche wirken voller Anspielung­en. Wollen Sie dem Leser eine Handreichu­ng zur Entschlüss­elung geben? Radzevičiū­tė: Wertvoll ist nur, was der Leser selbst findet. Was er entdeckt und versteht, hat Bedeutung für ihn. Ein Autor darf nicht sagen, wie sein Roman zu lesen ist.

Standard: Man weiß hierzuland­e kaum etwas über die Literatur Litauens. Gibt es eine Tradition oder ein Vorbild, an das Sie mit Ihren Romanen anknüpfen? Radzevičiū­tė: Das Schlimmste, was einem als Schriftste­ller passieren kann, ist, einen Lehrer zu haben oder einer Tradition anzugehöre­n. Wenn Sie unsere Literaturk­ritiker über mich befragen, werden die Ihnen antworten, dass meine Bücher mit der litauische­n Literatur nichts gemeinsam haben. Sie bezeichnen mich als die unlitauisc­hste litauische Schriftste­llerin. Meine Vorfahren kamen aus dem Kurland, einem Gebiet, in dem viele Sprachen gesprochen wurden, darunter auch Deutsch und Polnisch, und das heute ein Teil von Lettland ist. Vielleicht habe ich auch einen bösen Charakter und bin zu widerständ­ig.

Standard: Schreiben Sie an einem neuen Roman? Radzevičiū­tė: Im Februar erschien mein neuer Roman Kraujas mlynas – „Blaues Blut“. Er handelt vom nördlichen Zweig einer der gefährlich­sten europäisch­en Familien, derer von der Borch. Dieser Zweig kam aus Westfalen nach Livland. Bernd von der Borch, der im 15. Jahrhunder­t Landmeiste­r des Deutschen Ordens war, wollte die Macht des Ordens stärken und die Ordensritt­er auf einen Kreuzzug nach Tatarstan führen.

Undinė Radzevičiū­tė, geb. 1967 in Vilnius, studierte Kunstgesch­ichte. Sie war als Werberin tätig, bevor sie 2003 ihr Literaturd­ebüt gab. 2013 erschien der Roman „Žuvys ir drakonai“, der unter dem Titel „Fische und Drachen“(übersetzt von Cornelius Hell, Residenz, 2017) auf Deutsch erschien. Sie liest am 29. 3. um 18 Uhr in der Österr. Gesellscha­ft für Literatur. punkt zurück. Alles fängt von vorne an, und ich sage von mir: Ich lese mich gern. Ich lese gern über mich ... Ich müsste längst unheilvoll an der Trunksucht vergangen sein. Ich müsste mich längst von einer hohen Brücke gestürzt haben. Ich müsste lange schon wegen Raubmord, Körperentz­ugs, Seelendieb­stahls, Liebeshand­els im großen Stil im Gefängnis sitzen. Ich sollte längst vor die Hunde gegangen sein. Verbraucht. Verbraten. Wenn ich nicht ein Schreiberl­ing geblieben wäre.

Peter Wawerzinek, „Bin ein Schreiberl­ing“. € 18,– / 144 Seiten. Transit 2017

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Foto: Agnė Gintalaitė Zu widerständ­ig: Radzevičiū­tė.
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