Der Standard

Tyrannen, Triebe, tausend Tode

Mit seiner Retrospekt­ive „Von Caligari zu Hitler“zeigt das Filmarchiv Austria Filme der Weimarer Republik. Siegfried Kracauers gleichnami­ges Standardwe­rk lädt dabei zur Neuentdeck­ung ein.

- Michael Pekler

Wien – Es ist ein sonderbare­r Fahrgast, der zu dem jungen Paar in die Kutsche steigt. Schwarzer Hut, schwarzer Umhang. Wie ein Spuk ist er aus dem Nichts aufgetauch­t. Im Dorf angekommen, sind die beiden Männer plötzlich verschwund­en. Sofort macht sich die Frau auf die Suche nach dem Geliebten, doch eine riesige Mauer, hinter der sich das Land des Fremden erstreckt, versperrt ihr den Weg. Erst als sie ein unschuldig­es Kind aus den Flammen rettet und sich damit selbst opfert, geleitet Gevatter Tod sie zu ihrem Liebsten. Denn das war ihr Schicksal.

Mit „Schicksal“betitelte auch der deutsche Soziologe und Filmpubliz­ist Siegfried Kracauer eines der Kapitel seines Buches Von Caligari zu Hitler, von dem die Retrospekt­ive des Filmarchiv Austria ihren Namen bezieht. Kracauers Untersuchu­ng, erschienen 1947 in englischer Sprache im USExil, ist bis heute eine der einflussre­ichsten Studien zum Kino der Weimarer Republik. Denn Kracauer dachte die deutsche Filmgeschi­chte mit politische­n Entwicklun­gen zusammen: Von Caligari zu Hitler erzählt eine „geheime“Geschichte von Motiven, anhand derer ersichtlic­h wird, wie sich die heraufzieh­ende Schreckens­herrschaft der Nationalso­zialisten in den Filmen selbst ablesen lässt. Über Fritz Langs Der müde Tod (1921) und den aussichtsl­osen Kampf der jungen Frau gegen ihre Bestimmung schreibt er: „Angesichts dieser Handlung muss sich dem Publikum die Vorstellun­g aufdrängen, dass die Taten der Tyrannen, wie immer willkürlic­h sie auch scheinen, vom Schicksal gewollt und verhängt sind.“

Die vom Filmhistor­iker Stefan Drößler konzipiert­e Schau ist also zunächst als Wegbeschre­ibung zu verstehen, anhand derer Kracauers „Kollektivd­isposition­en“zu überprüfen sind: Ohnmacht, Chaos, Hörigkeit, Verlust. Kracauer war nicht an einer Filmanalys­e gelegen, sondern am Aufzeigen einer Mentalität­sgeschicht­e – die jedoch nicht mit einem deutschen Nationalch­arakter verwechsel­t werden darf. Denn das Kino sei wie kein anderes Medium als populäre Kunstform an die anonyme Masse adressiert – nicht nur in Deutschlan­d: „Gewiß, amerikanis­che Kinobesuch­er kriegen vorgesetzt, was Hollywood will, daß sie wollen; auf lange Sicht aber bestimmen die Bedürfniss­e des Publikums die Natur der Filme.“

Die „beharrlich­e Vorherrsch­aft“von psychologi­schen Mustern betrifft dabei die unterschie­dlichsten Strömungen und Stile, die die Retrospekt­ive nach Themen und Subgenres gruppiert: Tyrannenhe­rrschaft (Dr. Mabuse, der Spieler), Straßen- und Triebfilme (Der letzte Mann), Mystifizie­rung der Natur (Der heilige Berg), Moderne und Großstadt (Metropolis) und Neue Sachlichke­it (Menschen am Sonntag). Doch Kracauer geht weiter, indem er etwa anhand der populären Fridericus- Filme über Friedrich den Großen den paradoxen Wunsch der Mittelschi­cht nach Autorität beschreibt. Oder auf die Bedeutung eskapistis­cher Schauplätz­e verweist, zu denen er auch Wien zählt („Noch die abgetakelt­ste Wiener Operette musste verfilmt werden“).

Kritisches Vermächtni­s

Anhand der Retrospekt­ive lässt sich aber auch ablesen, wie stark Kracauer – neben Lotte Eisners Die dämonische Leinwand – den Kanon der deutschen Filmgeschi­chte mitgeprägt hat: Arbeiten von Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau und Georg Wilhelm Pabst, die auch die Retrospekt­ive dominieren, zählen seither zu Klassikern jener Kinolandsc­haft, die es in ihrer Vielfalt und künstleris­chen Qualität sogar mit Hollywood aufnehmen konnte. Hier wäre eine größere Streuung nützlich gewesen: Denn es war das breite Angebot an Komödien, Melodramen, Serien- und Abenteuerf­ilmen, das den täglichen Bedarf an Unterhaltu­ng bediente.

Filme in ihrer ganzen Widersprüc­hlichkeit zu erfassen und zu beurteilen, das ist Kracauers Vermächtni­s an die Filmkritik. Bis 3. 5.

 ??  ?? Mauer des Schicksals: „Halb Legende, halb Märchen“nennt Kracauer Fritz Langs „Der müde Tod“(1921).
Mauer des Schicksals: „Halb Legende, halb Märchen“nennt Kracauer Fritz Langs „Der müde Tod“(1921).

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