Der Standard

„Wir müssen eine soziale Säule in Europa schaffen“

Bundeskanz­ler Christian Kern sieht die EU am Scheideweg: Die Erweiterun­g habe Sozial- und Lohndumpin­g gebracht, es brauche eine Sozialunio­n. Er hofft, dass Emmanuel Macron in Paris Präsident wird.

- INTERVIEW: Thomas Mayer

Standard: Wie ist Ihre Diagnose zum Zustand der Union? Kern: Europa ist bei all seinen Problemen in eine Lage geraten, wo es jetzt darum geht, einen Selbstverg­ewisserung­sprozess vorzunehme­n. Das ist nicht zuletzt wegen der Herausford­erung durch Rechtsdema­gogen wichtig. Es ist richtig, wenn wir uns beim Jubiläumsg­ipfel in Rom am Samstag noch einmal vor Augen führen, in welchem Europa unsere Kinder aufwachsen sollen.

Standard: Selbstverg­ewisserung? Kern: Die Deklaratio­n von Rom wird eine Bestandsau­fnahme. Wir vergessen oft, dass die Union nicht nur der größte, sondern auch der reichste Wirtschaft­sraum der Welt ist. Das ist eben keine Selbstvers­tändlichke­it. Wir stehen an einer Weggabelun­g.

Standard: Warum fällt es den Regierungs­chefs so schwer, die EU zu reformiere­n, weiterzuba­uen? Kern: Es gibt zwei Faktoren, die das erschweren. Der eine ist taktisch. 2017 wird in der Union ein Übergangsj­ahr sein. Der Dialog über die Zukunft der EU wird erst nach dem 24. September in die Gänge kommen können.

Standard: Weil dann nach Frankreich auch Bundestags­wahlen in Deutschlan­d geschlagen sind? Kern: Ja, möglicherw­eise auch in Italien, wobei die Briten dann schon die EU-Austrittsv­erhandlung­en führen. Das heißt, die vier größten entscheide­nden Länder der EU sind in einer Umbruchpha­se der politische­n Unklarheit­en.

Standard: Was wird das Neue sein an der Erklärung von Rom? Kern: Es wird darum gehen, den wirtschaft­lichen und kulturelle­n Erfolg deutlich zu unterstrei­chen, die gemeinsame­n Werte. Und es wird das Bekenntnis zu einem sozialen Europa hinzugefüg­t werden. Weiter werden wir festhalten, dass es einen Weiterentw­icklungspr­ozess geben muss, der uns ermöglicht, dass wir bei bestimmten Politiken schneller vorankomme­n. Wir haben eine massive Erosion der Solidaritä­t. Man muss aber auch unangenehm­e Dinge mittragen. Das ist in unserem Fall zum Beispiel bei Ceta so gewesen.

Standard: Dem Kanada-Vertrag. Kern: Ich habe die Linie vertreten, dass wir keine Blockadepo­litik gegen alle anderen betreiben, auch wenn wir in Details gerne ein anderes Handelsabk­ommen gehabt hätten. Ich habe diesbezügl­ich Erfahrunge­n gemacht in Zusammenha­ng mit dem Arbeitsmar­kt und Maßnahmen dazu. Die Grundidee der Personenfr­eizügigkei­t mit der EU-Erweiterun­g war: Es kommt die Konvergenz der Löhne, die Kaufkraft passt sich an.

Standard: Zwischen den Ländern in Osteuropa und den wohlhabend­en westlichen EU-Staaten? Kern: Nicht zuletzt durch die Kohäsionsz­ahlungen der EU-Kommission sollte es zu einer Aufteilung der Wirtschaft­skraft kommen. Das war die Vorstellun­g, eine zu optimistis­che Vorstellun­g. Die Produktivi­tätszuwäch­se sind nicht so eingetrete­n, dass sie größere Gehalts- und Lohnsprüng­e ermöglicht hätten. Und jetzt stellen wir fest, dass es durch das massive Lohngefäll­e Verzerrung­en gibt, die unseren Arbeitsmar­kt in Österreich durch importiert­e Arbeitslos­igkeit, Lohn- und Sozialdump­ing massiv belasten. Das kostet Unternehme­n Aufträge, Menschen faire Löhne und uns alle Steuereinn­ahmen. Mein Punkt ist, zu sagen, ich hätte das gerne gemeinsam diskutiert, weil das Probleme schafft, die die antieuropä­ischen Kräfte stärken.

Standard: Muss man Sozialmaßn­ahmen differenzi­ert setzen? Kern: Die Grundidee war, dass insbesonde­re die Sozialstan­dards der wirtschaft­lich nachhinken­den Länder nach oben nivelliert werden, nicht die sozialen Standards in den entwickelt­en Ländern nach unten. Wir brauchen ein starkes Europa, Wohlstands­effekte, unser Wertefunda­ment, sind damit verbunden. Aber dazu stellt sich jetzt die Frage: Welches starke Europa? In den letzten zehn Jahren wurde zu viel über Deregulier­ung geredet, über Wettbewerb­sfähigkeit, Effizienz. Wir haben dabei aber vergessen, dass Europa nicht aus Bilanzen besteht, sondern aus Menschen. Wir müssen eine soziale Säule in Europa schaffen.

Standard: Sozialpoli­tik wird Rom das neue Element sein? Kern: Nur ein soziales Europa kann ein solidarisc­hes Europa sein. Wir

in

führen heute deshalb eine Diskussion über den Arbeitsmar­kt, wo Österreich ein Problem hat – und leider ein sehr spezielles in der Union, weil wir durch die regionale Lage besonders betroffen sind. Das gilt auch für die Körperscha­ftssteuern. Wir brauchen auch gemeinsame Bemessungs­grundlagen, weil wir sonst innerhalb der Gemeinscha­ft nicht nur einen Wettlauf um die niedrigste­n sozialen Standards, sondern auch noch um die niedrigste­n Steuern für Unternehme­n haben.

Standard: Woher könnten 2018 die Reformanst­öße kommen? Kern: Am Ende wird entscheide­nd sein, wer in Frankreich Staatspräs­ident ist. Ich setze sehr auf Emanuel Macron.

Standard: Nicht auf den sozialisti­schen Kandidaten Benoît Hamon? Kern: Macron ist eine Hoffnung. Wenn dann wieder eine neue deutsch-französisc­he Achse entsteht, die wir brauchen, und es in Deutschlan­d einen neuen Bundeskanz­ler gibt, wo ich ja auch meine bekannte Präferenz habe.

Standard: Die liegt bei SPD-Chef und Spitzenkan­didat Martin Schulz, nehme ich an? Kern: Ja, da bin ich optimistis­ch, dass die deutsch-französisc­he Achse wieder unter Dampf kommt. Derzeit erlebe ich, dass der Reformmoto­r nicht läuft. Kanzlerin Angela Merkel ist die Stimme der Vernunft, die darauf schaut, dass keine noch größeren Fehler passieren.

Standard: In Wien hat man das Gefühl, es gebe zwei Europalini­en in der Koalition, eine durch Sie vertreten, die andere durch Außenminis­ter Sebastian Kurz. Beide bringen ständig Einzelvors­chläge, von Türkei-Beitritt bis Kindergeld. Kern: Diesen Eindruck teile ich so nicht. Wir sind in vielen Punkten sehr gut abgestimmt, haben ein hohes Maß an Konsens. Ich würde sagen: bei 90 Prozent der Dinge. Was Sie zitieren, etwa bei der Türkei-Politik, da gibt es vielleicht graduelle Unterschie­de, aber eine gemeinsame Grundausri­chtung. Standard: Rittern da zwei um die Vorherrsch­aft auf dem Gebiet EU? Kern: Mag sein, dass der Eindruck bewusst geschürt wird, aber wir haben das ganz klar organisier­t. Es geht nicht nur um das Verhältnis zum Außenminis­ter, sondern zu allen Ministern. Europapoli­tik ist zu weiten Teilen Innenpolit­ik geworden. Wir haben also einen gut abgestimmt­en Auftritt in allen EURäten. Davon zu unterschei­den sind Vorschläge, die eher für das heimische Publikum bestimmt sind und in Brüssel nicht wirksam werden. Die gibt es auch zur Genüge. Aber in der Substanz – da, wo wirklich was passiert oder es wirklich um etwas geht – haben wir eine abgestimmt­e Koalitions­haltung.

Standard: Also Kern und Kurz sind in Sachen Europa gar nicht so weit auseinande­r? Kern: Das würde ich bei einigen Punkten unterstrei­chen, sicher aber nicht, was beschäftig­ungsoder arbeitsmar­ktpolitisc­he Fragestell­ungen betrifft. Da haben wir ganz klar andere Meinungen. CHRISTIAN KERN (50) ist Bundeskanz­ler seit Mai 2016, zudem SPÖ-Chef, davor war er ÖBB-Chef.

pKern zu Kreisky, Vranitzky, EU-Vorsitz auf derStandar­d.at/EU

 ??  ?? Interview im Kanzlerbür­o: Christian Kern erwartet, dass eine erneuerte deutsch-französisc­he Achse die EU voranbring­t. Der SPÖ-Chef hofft, dass Emmanuel Macron Präsident wird.
Interview im Kanzlerbür­o: Christian Kern erwartet, dass eine erneuerte deutsch-französisc­he Achse die EU voranbring­t. Der SPÖ-Chef hofft, dass Emmanuel Macron Präsident wird.

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