„Wir müssen eine soziale Säule in Europa schaffen“
Bundeskanzler Christian Kern sieht die EU am Scheideweg: Die Erweiterung habe Sozial- und Lohndumping gebracht, es brauche eine Sozialunion. Er hofft, dass Emmanuel Macron in Paris Präsident wird.
Standard: Wie ist Ihre Diagnose zum Zustand der Union? Kern: Europa ist bei all seinen Problemen in eine Lage geraten, wo es jetzt darum geht, einen Selbstvergewisserungsprozess vorzunehmen. Das ist nicht zuletzt wegen der Herausforderung durch Rechtsdemagogen wichtig. Es ist richtig, wenn wir uns beim Jubiläumsgipfel in Rom am Samstag noch einmal vor Augen führen, in welchem Europa unsere Kinder aufwachsen sollen.
Standard: Selbstvergewisserung? Kern: Die Deklaration von Rom wird eine Bestandsaufnahme. Wir vergessen oft, dass die Union nicht nur der größte, sondern auch der reichste Wirtschaftsraum der Welt ist. Das ist eben keine Selbstverständlichkeit. Wir stehen an einer Weggabelung.
Standard: Warum fällt es den Regierungschefs so schwer, die EU zu reformieren, weiterzubauen? Kern: Es gibt zwei Faktoren, die das erschweren. Der eine ist taktisch. 2017 wird in der Union ein Übergangsjahr sein. Der Dialog über die Zukunft der EU wird erst nach dem 24. September in die Gänge kommen können.
Standard: Weil dann nach Frankreich auch Bundestagswahlen in Deutschland geschlagen sind? Kern: Ja, möglicherweise auch in Italien, wobei die Briten dann schon die EU-Austrittsverhandlungen führen. Das heißt, die vier größten entscheidenden Länder der EU sind in einer Umbruchphase der politischen Unklarheiten.
Standard: Was wird das Neue sein an der Erklärung von Rom? Kern: Es wird darum gehen, den wirtschaftlichen und kulturellen Erfolg deutlich zu unterstreichen, die gemeinsamen Werte. Und es wird das Bekenntnis zu einem sozialen Europa hinzugefügt werden. Weiter werden wir festhalten, dass es einen Weiterentwicklungsprozess geben muss, der uns ermöglicht, dass wir bei bestimmten Politiken schneller vorankommen. Wir haben eine massive Erosion der Solidarität. Man muss aber auch unangenehme Dinge mittragen. Das ist in unserem Fall zum Beispiel bei Ceta so gewesen.
Standard: Dem Kanada-Vertrag. Kern: Ich habe die Linie vertreten, dass wir keine Blockadepolitik gegen alle anderen betreiben, auch wenn wir in Details gerne ein anderes Handelsabkommen gehabt hätten. Ich habe diesbezüglich Erfahrungen gemacht in Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt und Maßnahmen dazu. Die Grundidee der Personenfreizügigkeit mit der EU-Erweiterung war: Es kommt die Konvergenz der Löhne, die Kaufkraft passt sich an.
Standard: Zwischen den Ländern in Osteuropa und den wohlhabenden westlichen EU-Staaten? Kern: Nicht zuletzt durch die Kohäsionszahlungen der EU-Kommission sollte es zu einer Aufteilung der Wirtschaftskraft kommen. Das war die Vorstellung, eine zu optimistische Vorstellung. Die Produktivitätszuwächse sind nicht so eingetreten, dass sie größere Gehalts- und Lohnsprünge ermöglicht hätten. Und jetzt stellen wir fest, dass es durch das massive Lohngefälle Verzerrungen gibt, die unseren Arbeitsmarkt in Österreich durch importierte Arbeitslosigkeit, Lohn- und Sozialdumping massiv belasten. Das kostet Unternehmen Aufträge, Menschen faire Löhne und uns alle Steuereinnahmen. Mein Punkt ist, zu sagen, ich hätte das gerne gemeinsam diskutiert, weil das Probleme schafft, die die antieuropäischen Kräfte stärken.
Standard: Muss man Sozialmaßnahmen differenziert setzen? Kern: Die Grundidee war, dass insbesondere die Sozialstandards der wirtschaftlich nachhinkenden Länder nach oben nivelliert werden, nicht die sozialen Standards in den entwickelten Ländern nach unten. Wir brauchen ein starkes Europa, Wohlstandseffekte, unser Wertefundament, sind damit verbunden. Aber dazu stellt sich jetzt die Frage: Welches starke Europa? In den letzten zehn Jahren wurde zu viel über Deregulierung geredet, über Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz. Wir haben dabei aber vergessen, dass Europa nicht aus Bilanzen besteht, sondern aus Menschen. Wir müssen eine soziale Säule in Europa schaffen.
Standard: Sozialpolitik wird Rom das neue Element sein? Kern: Nur ein soziales Europa kann ein solidarisches Europa sein. Wir
in
führen heute deshalb eine Diskussion über den Arbeitsmarkt, wo Österreich ein Problem hat – und leider ein sehr spezielles in der Union, weil wir durch die regionale Lage besonders betroffen sind. Das gilt auch für die Körperschaftssteuern. Wir brauchen auch gemeinsame Bemessungsgrundlagen, weil wir sonst innerhalb der Gemeinschaft nicht nur einen Wettlauf um die niedrigsten sozialen Standards, sondern auch noch um die niedrigsten Steuern für Unternehmen haben.
Standard: Woher könnten 2018 die Reformanstöße kommen? Kern: Am Ende wird entscheidend sein, wer in Frankreich Staatspräsident ist. Ich setze sehr auf Emanuel Macron.
Standard: Nicht auf den sozialistischen Kandidaten Benoît Hamon? Kern: Macron ist eine Hoffnung. Wenn dann wieder eine neue deutsch-französische Achse entsteht, die wir brauchen, und es in Deutschland einen neuen Bundeskanzler gibt, wo ich ja auch meine bekannte Präferenz habe.
Standard: Die liegt bei SPD-Chef und Spitzenkandidat Martin Schulz, nehme ich an? Kern: Ja, da bin ich optimistisch, dass die deutsch-französische Achse wieder unter Dampf kommt. Derzeit erlebe ich, dass der Reformmotor nicht läuft. Kanzlerin Angela Merkel ist die Stimme der Vernunft, die darauf schaut, dass keine noch größeren Fehler passieren.
Standard: In Wien hat man das Gefühl, es gebe zwei Europalinien in der Koalition, eine durch Sie vertreten, die andere durch Außenminister Sebastian Kurz. Beide bringen ständig Einzelvorschläge, von Türkei-Beitritt bis Kindergeld. Kern: Diesen Eindruck teile ich so nicht. Wir sind in vielen Punkten sehr gut abgestimmt, haben ein hohes Maß an Konsens. Ich würde sagen: bei 90 Prozent der Dinge. Was Sie zitieren, etwa bei der Türkei-Politik, da gibt es vielleicht graduelle Unterschiede, aber eine gemeinsame Grundausrichtung. Standard: Rittern da zwei um die Vorherrschaft auf dem Gebiet EU? Kern: Mag sein, dass der Eindruck bewusst geschürt wird, aber wir haben das ganz klar organisiert. Es geht nicht nur um das Verhältnis zum Außenminister, sondern zu allen Ministern. Europapolitik ist zu weiten Teilen Innenpolitik geworden. Wir haben also einen gut abgestimmten Auftritt in allen EURäten. Davon zu unterscheiden sind Vorschläge, die eher für das heimische Publikum bestimmt sind und in Brüssel nicht wirksam werden. Die gibt es auch zur Genüge. Aber in der Substanz – da, wo wirklich was passiert oder es wirklich um etwas geht – haben wir eine abgestimmte Koalitionshaltung.
Standard: Also Kern und Kurz sind in Sachen Europa gar nicht so weit auseinander? Kern: Das würde ich bei einigen Punkten unterstreichen, sicher aber nicht, was beschäftigungsoder arbeitsmarktpolitische Fragestellungen betrifft. Da haben wir ganz klar andere Meinungen. CHRISTIAN KERN (50) ist Bundeskanzler seit Mai 2016, zudem SPÖ-Chef, davor war er ÖBB-Chef.
pKern zu Kreisky, Vranitzky, EU-Vorsitz auf derStandard.at/EU