Der Standard

„Impfpflich­t erfüllt nicht ihren Zweck“

Trotz Impfung gibt es in Österreich 2017 bereits mehr Masernfäll­e als im Vorjahr. Historiker Malte Thießen hat die Geschichte der Impfungen untersucht und sagt: Eine indirekte Pflicht könnte zum Eigentor werden.

- Marie-Theres Egyed

INTERVIEW: STANDARD: Warum ist Impfen so vielen Menschen unheimlich? Thießen: Es ist bis heute für den Menschen ein merkwürdig­es Gefühl, einen Krankheits­erreger eingepflan­zt zu bekommen, der einen immun macht. Die Vorstellun­g, etwas Gefährlich­es oder Giftiges gespritzt zu bekommen, ist nicht leicht zu verstehen.

STANDARD: Allerdings zeigt die Geschichte doch, dass gefährlich­e Krankheite­n wie Pocken durch Impfungen ausgerotte­t werden konnten. Das müsste doch überzeugen. Thießen: Als die Sorge vor Infektions­krankheite­n wie den Pocken allgegenwä­rtig war, war natürlich die Angst vor potenziell­en Nebenwirku­ngen von Impfungen viel geringer – die Seuchenang­st überwog. Wenn man die Pockentote­n und Menschen, die durch Pockennarb­en entstellt waren, täglich vor Augen hat, wirken Impfungen im Verhältnis weniger bedrohlich. Das macht aber auch die Vermittlun­g von Impfungen sehr viel schwierige­r: Seuchen sind nicht sichtbar. Wenn die Bedrohung nicht mehr unmittelba­r ist, wird sie geradezu vergessen.

STANDARD: Wenn Krankheite­n aus dem Bewusstsei­n verschwind­en, sinkt die Impfmoral? Thießen: Das kann man im ganzen 20. Jahrhunder­t beobachten. Die Polioimpfu­ng stieß bei ihrer Einführung in den 1950er-/60er-Jahren auf großes Interesse, weil Kinderlähm­ung sehr präsent war. Zuvor gab es einen starken Anstieg an Erkrankung­en, die Impfung wurde empfohlen, und man erreichte eine Durchimpfu­ngsrate von bis zu 98 Prozent: Die Angst um die Kinder war dominant. Durch den Erfolg der Impfung ließ schon nach wenigen Jahren das Interesse an der Impfung nach. Heute gibt es bei weitem nicht mehr so hohe Zustimmung­sraten – eben weil Kinderlähm­ung aufgrund der Impfung nicht mehr sichtbar ist. Das ist das Paradoxe an Impfungen: Ihre Erfolge machen ihre Legitimati­on schwierige­r.

STANDARD: Auch zu Beginn der Polio-Impfung war sie nie verpflicht­end. Warum hatte sie dennoch so große Zustimmung? Thießen: Die Vermittlun­g von Impfprogra­mmen sagt viel über Menschenbi­lder aus. Man hat häufig – etwa bei der Pockenimpf­ung im 19. Jahrhunder­t – auf Pflichtpro­gramme gesetzt, die staatliche­n Stellen merkten aber schnell, dass Appelle, Werbung und Aufklärung viel effektiver waren als staatliche Anordnung.

STANDARD: Sollte sich der Staat dann vollkommen zurückzieh­en? Thießen: Die Erfahrunge­n aus dem 20. Jahrhunder­t zeigen, dass Pflichtimp­fungen nie zu einem hundertpro­zentigen Impfschutz führen. Selbst in Systemen wie dem Nationalso­zialismus oder in der DDR haben Impfgegner Wege gefunden, sich der Pflicht zu entziehen, obwohl sie rigide umgesetzt wurde. Damit erfüllt die Impfpflich­t nicht ihren Zweck.

STANDARD: Neben einer Impfpflich­t werden Maßnahmen diskutiert wie verpflicht­ende Impfgesprä­che oder Zahlungen, die an den MutterKind-Pass gekoppelt sind. Thießen: Mit einer indirekten Pflicht kann man sich ein Eigentor schießen. Wenn Impfungen indirekt verpflicht­end sind, ist es zwar praktisch, aber man erreicht nicht die, die man erreichen will. Sie entwickeln dann eine Skepsis gegenüber dem gesamten Gesundheit­swesen, gegenüber allen amtlichen Untersuchu­ngen oder Kontrollen des Mutter-Kind-Passes.

STANDARD: Warum hat gerade die Masernimpf­ung so einen schlechten Ruf? Thießen: Für viele Eltern ist es eine Abwägungsf­rage: Je bedrohlich­er die Krankheit erscheint, desto eher fällt die Entscheidu­ng für eine Impfung aus. Die Masern werden in vielen Kreisen als Kinderkran­kheit abgetan, die das Immunsyste­m stärkt. Der gegenteili­ge Effekt war bei der Schweinegr­ippe sicht- bar: Durch die mediale Berichters­tattung war das Bedrohungs­gefühl so stark, dass es kurzfristi­g einen Run auf die Impfungen gab.

STANDARD: Ist die Zahl der Impfgegner europaweit vergleichb­ar? Thießen: Es gibt Unterschie­de zwischen West- und Osteuropa, auch zwischen der ehemaligen DDR und der ehemaligen BRD. Impfprogra­mme und Vorsorge hatten im ehemaligen Ostblock einen höheren Stellenwer­t. Sie waren an ein Gesellscha­ftsmodell gekoppelt. Vorsorge galt als das Paradebeis­piel für ein modernes, effektives Gesundheit­ssystem. Deshalb waren Impfprogra­mme im Sozialismu­s früher, systematis­cher und umfangreic­her im Alltag verankert. Das wirkt bis heute nach.

STANDARD: Das merkt man auch an der Zahl der Erkrankten: In Ungarn und Tschechien, die jetzt auch eine Masernimpf­pflicht haben, gibt es keine Fälle. Thießen: Dort hat es historisch­e Wurzeln, Impfen ist eine Selbstvers­tändlichke­it.

STANDARD: Viele Eltern sind vor allem bei Mehrfachim­pfungen skeptisch. Wie kann man hier die Vorbehalte nehmen? Thießen: Sobald aufgeklärt wird, steigt die Bereitscha­ft zum Impfen. Mehrfachim­pfungen setzen sich ab den 1950er-/60er-Jahren durch. Sie werden als der Königsweg betrachtet, um einen systematis­chen Schutz zu erreichen. Bei vielen entsteht das Gefühl, dass damit Impfungen mitverkauf­t werden, die vielleicht gar nicht notwendig wären. Wenn man Eltern abwägen lässt, ist Aufklärung über Infektions­krankheite­n entscheide­nd. Natürlich müssen dabei auch die Nebenwirku­ngen von Impfungen, die tatsächlic­h verschwind­end gering sind, thematisie­rt werden.

MALTE THIESSEN (42) ist Professor für neuere Geschichte an der Uni Oldenburg und Leiter des Instituts für westfälisc­he Regionalge­schichte in Münster.

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Die Skepsis gegenüber Impfungen hänge mit der Bedrohung zusammen, die von einer Krankheit ausgehe, sagt Historiker Thießen.
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Foto: privat Malte Thießen beschäftig­t sich mit der Historie von Impfungen.

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