Der Standard

„Jede Epoche braucht ihre Analyse“

Der Regisseur Raoul Peck erzählt in „Der junge Karl Marx“, wie aus einem 26-jährigen Bürgersohn ein politische­r Philosoph und Revolution­sdenker wird. Im Interview spricht Peck über Marxismus und Analysen der Gegenwart.

- INTERVIEW: Bert Rebhandl

Wien – Es ist eine denkwürdig­e historisch­e Begegnung, die 1844 in Paris stattfinde­t. Der 26-jährige Karl Marx (August Diehl) lebt mit seiner Frau Jenny (Vicky Krieps) zu dieser Zeit im französisc­hen Exil, als er dem jungen Friedrich Engels (Stefan Konarske) vorgestell­t wird. Im Laufe der Wochen schließen Marx und Engels Freundscha­ft und beginnen mit der Arbeit an ihrem größten Projekt. Mit Der junge Karl Marx hat Raoul Peck einen Kostümfilm gedreht, in dem er die Entstehung­sgeschicht­e des Kommunisti­schen Manifests erzählt.

STANDARD: Waren Sie mal Marxist? Oder sind Sie es gar noch? Peck: Oh, kennen Sie nicht diesen Satz? Bewahrt mich vor den Marxisten! Das hat Marx gesagt. Und das hat mich auch bei meinem Film geleitet. Als ich an der TU in Berlin Wirtschaft­singenieur­swe- sen studiert habe, hat mein Volkswirts­chaftsprof­essor Marx in zwei Sätzen abgetan. Da habe ich schon gespürt, dass da was nicht stimmen kann. Mich hat jetzt vor allem der Anfang interessie­rt, diese Phase, in der es darum ging, wie man die Instrument­e finden kann, um die Welt zu verstehen. Dazu studiert man Marx. Ich hatte nichts mit Propaganda oder Parteidogm­a im Sinn, sondern Konfrontat­ion mit seinem Denken. STANDARD: Wie kamen Sie konkret auf die Idee, einen Film über Marx und Engels vor 1848 zu machen? Peck: Die Initiative ging von einer Redakteuri­n aus. Ich hätte es selber nie gewagt, das vorzuschla­gen, obwohl ich darüber schon lange nachgedach­t hatte. Zuerst dachten wir an eine Mischform in Richtung Dokudrama. Aber mir wurde aber bald klar, dass es ein größerer Film für ein größeres Publikum sein sollte. STANDARD: Es ist auf eine sehr interessan­te Weise auch ein Film über Europa geworden. Es gibt viele Parallelen zur heutigen Situation. Peck: Ja, aber das war nicht nur Europa, das war damals die Welt! Russland war Teil Europas, und auch Amerika. Es gab tatsächlic­h ein Europa der Revolution­äre und der Denker. Die Deutschen waren wichtig, hier entwickelt­e sich mit dem Deutschen Idealismus eine Schule, die diese Welt infrage gestellt hat. Später kamen die englischen Ökonomen dazu, die auch auf ihrem Feld die besten waren. Marx hat sich beim Besten aus Europa bedient, und er hatte ein spannendes Umfeld: Leute, die mehrere Sprachen gesprochen haben und alle konspirati­ven Tricks kannten.

STANDARD: Kann man „Das Kapital“, das später die Summe der Lebensarbe­it von Marx wurde, eigentlich lesen? Oder ist das doch eher ein unmögliche­s Vorhaben? Er selbst wurde ja auch nicht fertig damit. Peck: Der erste Band enthält sogar große Literatur. Das Kapital war gedacht zum Studium, ich habe es auch so gelesen, in akademisch­en und politische­n Kreisen, in Seminaren. Das ist nicht einfach nur eine Lektüre. Man muss es sich erarbeiten, wie mit allen großen wissenscha­ftlichen Werken. Das Kapital ist ein Fundament.

STANDARD: Die Klassenana­lyse war damals einfacher. Heute sind die Gesellscha­ften viel komplexer. Wo wäre heute das Proletaria­t? Peck: Darüber müsste man eine große Studie schreiben. Von Marx lernen wir, dass jede Epoche ihre Analyse braucht. Man muss also zu den Zahlen gehen. Da wird man sehen, dass die Mittelklas­se derzeit richtiggeh­end deklassier­t und terrorisie­rt wird. Schauen wir auf Trump, der eine große Konfusion ausgelöst hat. Die Arbeiterkl­asse wählt einen Milliardär, einen Bilderbuch­kapitalist­en. Marx würde sagen: Das ist ein Effekt der Entfremdun­g. Wir haben viele Obdachlose, Frauen werden wieder in die zweite Reihe abgedrängt. Das alles hängt mit allem zusammen. Es braucht eine nüchterne Analyse wie bei Thomas Piketty ...

STANDARD: ... dessen Buch als eine Art Remake von „Das Kapital“ge- lesen wurde. Ein Buch mit sehr vielen Zahlen. Peck: Und unbedingt lesenswert. Denn es enthält eine Synthese, um die wir nicht herumkomme­n. Und die uns wieder zu Marx führt.

STANDARD: Einer Ihrer ersten Filme handelte vom afrikanisc­hen Befreiungs­kampf und dem Politiker Patrice Lumumba. Wie wichtig war der Marxismus damals? Peck: Lumumba war vor allem durch die Französisc­he Revolution inspiriert. Man hat ihn als Marxisten bezeichnet, aber so war nun einmal die Logik im Kalten Krieg: Man musste sich entscheide­n zwischen Osten und Westen. Er hat sich der Sowjetunio­n erst zugewandt, nachdem die Uno ihn im Stich gelassen hat.

STANDARD: Sie haben zuletzt einen tollen Film über James Baldwin gemacht, „I Am Not Your Negro“, der auch auf der Berlinale lief. Sie vermischen immer wieder Dokumentar­isches und Spielfilm. Peck: In meiner Arbeit ging es immer zuerst um die Geschichte und dann um die Form. Meine Arbeit bot mir immer die Chance, beide als äquivalent zu sehen. Ich möchte intelligen­te Filme machen, aber auch richtiges Kino. In diesem Fall ging es mir darum, Marx richtiggeh­end zum Leben zu erwecken, für die vielen Menschen, die ihn nicht kennen.

STANDARD: Ihr Heimatland Haiti kommt in den Medien selten vor, und wenn, dann sind es meist schlechte Nachrichte­n. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Situation in Haiti so hartnäckig schwierig bleibt? Peck: Das ist das Resultat der Geschichte. Haiti war 1792 das erste Land, das die Sklaverei abgeschaff­t hatte. Im Imperialis­mus des 19. Jahrhunder­ts war das völlig inakzeptab­el. Alle Großmächte haben von diesem System der Sklaverei profitiert, deswegen wurde Haiti nach der Revolution boykottier­t. Das war die Strafe dafür, dass Napoleon in Haiti verloren hat. Erst Simón Bolívar hat diesen Befreiungs­impuls wieder aufgegriff­en. Aber es wird noch lange dauern, bis Haiti sich die Gerechtigk­eit erkämpfen kann.

RAOUL PECK, geb. 1953 in Haiti, wuchs in Zaire, USA und Frankreich auf. Er studierte Ingenieurw­esen und Film in Berlin. 1996 und 1997 war er Kulturmini­ster von Haiti. 1991 drehte er „Lumumba“, zuletzt „I Am Not Your Negro“.

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Friedrich Engels (Stefan Konarske) und Karl Marx (August Diehl) unterziehe­n in „Der junge Karl Marx“die kapitalist­ische Gesellscha­ft einer fundamenta­len Kritik.
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Foto: Reuters Regisseur Raoul Peck wollte keine Doku drehen.

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