Der Standard

Hunnen brachten einen neuen Lebensstil

Der Einfall der Hunnen in der Spätantike ließ das Römische Reich erzittern. Ihre Begegnung mit der Bevölkerun­g an der Peripherie des Imperiums war aber nicht nur von Gewalt geprägt, wie nun Ausgrabung­en zeigen.

- Thomas Bergmayr

Cambridge/Wien – Die Hunnen genießen in der Geschichts­schreibung nicht unbedingt den besten Ruf – vermutlich auch nicht ganz zu Unrecht. Die hunnischen Reiterscha­ren aus Zentralasi­en, eine uneinheitl­iche Mischung nomadische­r und halbnomadi­scher Stämme, drangen im vierten und fünften Jahrhunder­t plündernd und brandschat­zend in das spätrömisc­he Reich ein.

Der Völkerstur­m löste in Europa nicht nur eine Kettenreak­tion an Wanderbewe­gungen aus, sondern erschütter­te letztlich auch die Grundfeste­n des Weströmisc­hen Imperiums. Will man römischen Chronisten Glauben schenken, dann trugen die Hunnen ausschließ­lich Schrecken und Gewalt in die eroberten Gebiete.

Aktuelle britische Ausgrabung­en zeichnen dagegen ein etwas differenzi­erteres Bild vom Einfluss dieser Völker aus dem Osten: Gebeine aus Gräbern in Ungarn, der damaligen Grenzprovi­nz Pannonien, vermitteln erstmals einen detaillier­ten Eindruck davon, wie die Begegnung zwischen der Bevölkerun­g der römischen Peripherie und den Hunnen im fünften Jahrhunder­t ausgesehen haben könnte. Das Aufeinande­rtreffen war demnach offenbar nicht unbedingt ausschließ­lich gewalttäti­ger Natur – im Gegenteil. Ein Archäologe­nteam um Susanne Hakenbeck von der University of Cambridge konnte auf Basis biochemisc­her Analysen von Zähnen und Knochen nachweisen, dass zumindest einige Bauern aus den Grenzregio­nen ihre Farmen verließen, um sich den Hunnen anzuschlie­ßen. Im Gegenzug gaben viele Hunnen ihr Nomadenleb­en auf, siedelten sich an und erfreuten sich an den kulinarisc­hen Segnungen der Landwirtsc­haft.

„Die Hunnen dürften einen Lebensstil mitgebrach­t haben, der so manchem Bauern aus Gegenden am Rande des Reiches zusagte. Gleichzeit­ig fanden sie selbst Gefallen an der Sesshaftig­keit“, meint Hakenbeck. „Es war eine turbulente Epoche, in der Abkommen zwischen den Römern und verschiede­nen Stämmen geschlosse­n und wieder gebrochen wurden. Diese fortdauern­de Unsicherhe­it könnte sich im Lebensstil­wechsel widerspieg­eln.“

Wahlfreihe­it als Chance

Dies ging sogar so weit, dass Angehörige der lokalen Bevölkerun­g hunnische Bräuche aufgriffen. Wie die Forscher im Fachjourna­l Plos One berichten, besaßen einige pannonisch­e Bauern einen künstlich verlängert­en Schädelkno­chen, eine Praxis, die unter zentralasi­atischen Reiterstäm­men weit verbreitet war.

„Während römische Schriften fast ausschließ­lich Konfrontat­ionen mit den Hunnen schildern, zeigen unsere Funde, dass es in Grenzgebie­ten offenbar bis zu einem gewissen Grad auch zur Koexistenz und Kooperatio­n gekommen sein muss“, so Hakenbeck. In den dunklen Zeiten am Rande des Untergangs dürften viele Menschen die plötzliche Wahlfreihe­it zwischen zwei Lebensstil­en als neue Chance angesehen haben.

 ??  ?? Sogenannte Turmschäde­l werden von Bandagen während der Kindheit geformt. Diese Praxis gelangte mit den Hunnen nach Europa.
Sogenannte Turmschäde­l werden von Bandagen während der Kindheit geformt. Diese Praxis gelangte mit den Hunnen nach Europa.

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