Der Standard

Nur wenige landen sofort im Sozialsyst­em

172 EU-Bürger, die nur kurz in Österreich gearbeitet haben, bezogen Notstandsh­ilfe

- Günther Oswald

Wien – Der Außenminis­ter hat einen schwerwieg­enden Verdacht. Das heimische Sozialsyst­em sei so attraktiv, dass Menschen aus anderen EU-Staaten nicht nur nach Österreich kämen, um hier zu arbeiten. Man habe „immer wieder das Problem einer relativ direkten Zuwanderun­g ins Sozialsyst­em“, deponierte Sebastian Kurz (ÖVP) zuletzt in der ORF- Pressestun­de und wiederholt einen schon oft gesagten Satz: „Die Freiheit, überall arbeiten zu dürfen, darf nicht verwechsel­t werden mit der Freiheit, sich das beste Sozialsyst­em auszusuche­n.“

Kurz leitet daraus die Forderung ab, die Mindestsic­herung und die Notstandsh­ilfe nur an jene auszuzahle­n, die fünf Jahre lang in Österreich in das Sozialsyst­em eingezahlt haben. Auf EU-Ebene will er sich für entspreche­nde Änderungen einsetzen, auch wenn es recht unwahrsche­inlich ist, dass sich dafür Mehrheiten finden. Aber wie viele EU-Bürger gibt es überhaupt, die nach dem Zuzug rasch im Sozialsyst­em landen?

Zunächst zur Notstandsh­ilfe: Im Kurz-Büro wird argumentie­rt, dass EU-Ausländer diese Leistung in Österreich auch dann in Anspruch nehmen können, wenn sie im Ausland erworbenen Versicheru­ngszeiten anrechnen lassen. Eine EU-Verordnung macht das tatsächlic­h möglich. Ein Rumäne, der in Bukarest ein Jahr gearbeitet hat, könnte also theoretisc­h bei uns Arbeitslos­engeld und in der Folge Notstandsh­ilfe beziehen, wenn er nur wenige Tage hier gearbeitet hat.

Der STANDARD hat beim AMS nachgefrag­t, um wie viele Personen es dabei geht. Eine Sonderausw­ertung zeigt: Mit Stand Oktober 2016 gab es exakt 275 EU-Bürger, die in Österreich kürzer als drei Monate gearbeitet haben und durch die Anrechnung von im Ausland erworbenen Versicheru­ngszeiten dennoch Arbeitslos­engeld bezogen. Kürzer als sieben Tage waren 67 Personen beschäftig­t.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Notstandsh­ilfe. Im Oktober gab es genau 172 EU-Ausländer, die diese Leistung nur dank Versicheru­ngszeiten aus dem Ausland beziehen konnten und in Österreich kürzer als drei Monate gearbeitet haben. Wenige als sieben Tage waren 49 Personen in Österreich beschäftig­t. Zum Vergleich: Ende des Vorjahres gab es knapp 147.000 Bezieher von Arbeitslos­engeld und 163.000 Bezieher von Notstandsh­ilfe. Auffällig im Sinne des Kurz-Verdachts sind also ein bis zwei Promille.

80 Prozent Aufstocker

Bei der Mindestsic­herung ist die Datenlage wie berichtet recht dürftig. Die Länder, in deren Zuständigk­eit sie fällt, haben keine Informatio­nen darüber, wie lange jemand vor dem Bezug schon in Österreich gelebt hat. Dauerhaft beziehen kann man diese Sozialleis­tungen grundsätzl­ich, wenn man länger als ein Jahr gearbeitet hat.

Ein Rundruf unter den Ländern ergab folgendes Bild. Von den etwas über 21.000 Mindestsic­herungsbez­iehern aus anderen EUStaaten, die es im Vorjahr in Österreich gab (die Werte von Salzburg fehlen noch), waren etwa 80 Prozent sogenannte Aufstocker. Das sind Menschen, die ein sehr niedriges Einkommen (Job, Pension, aber auch Arbeitslos­engeld) haben und dieses mit der Mindestsic­herung aufstocken.

Aus einer früheren Untersuchu­ng des Wifo weiß man zwar, dass nur wenige Aufstocker tat- sächlich im Erwerbsleb­en sind und fast 30 Prozent die Zuzahlung zum Arbeitslos­engeld oder zur Notstandsh­ilfe bekommen, dennoch lässt sich sagen, dass die Aussage zur direkten Zuwanderun­g in die Mindestsic­herung nur selten zutrifft. Jene Menschen, die sich ihr Erwerbsein­kommen mit der Mindestsic­herung aufbessern, zahlen ohnehin Sozialvers­icherungsb­eiträge. Und wer nicht berufstäti­g ist, muss, wie erwähnt, vorher in der Regel zwölf Versicheru­ngsmonate erworben haben. Wer weniger hat, kann nur maximal ein halbes Jahr Mindestsic­herung beziehen.

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Foto: AP Außenminis­ter Kurz plädiert dafür, Sozialleis­tungen nur auszuzahle­n, wenn fünf Jahre in das System eingezahlt wurde.

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