Der Standard

Die umstritten­e Rolle der Rettungssc­hiffe

Seenotrett­ung wird oft als Pull-Faktor für die Flüchtling­szahlen kritisiert. Doch neue Analysen widerlegen, dass Ankünfte von Migranten dadurch steigen. Schlepper profitiere­n aber schon.

- Kim Son Hoang

Der UN-Sondergesa­ndte für Libyen, Martin Kobler, hat es im November 2016 gesagt. Auch Fabrice Leggeri, Direktor der EU-Grenzschut­zagentur Frontex, war im Februar 2017 dieser Meinung. Schließlic­h sprach Außenminis­ter Sebastian Kurz (ÖVP) vergangene­n Freitag beim Besuch einer Frontex-Mission von „NGO-Wahnsinn“und gab die gleiche Botschaft zu Protokoll: Rettungsma­ßnahmen im Mittelmeer, um Flüchtling­e vor dem Tod zu bewahren, sind ein Pull-Faktor – ein Anreiz für Menschen, den Seeweg nach Europa anzutreten.

Auch der deutsche Innenminis­ter Thomas de Maizière und andere europäisch­e Politiker hatten sich mit derselben Begründung am italienisc­hen Seenotrett­ungsprogra­mm Mare Nostrum gestoßen, das zwischen Oktober 2013 und Oktober 2014 etwa 150.000 Menschen das Leben gerettet hatte. Von einem „Flüchtling­smagneten“oder einer „Brücke nach Europa“ist immer wieder die Rede.

Frontex-Zahlen verglichen

Eine neue Studie widerlegt nun diesen Pull-Faktor. In dem noch unveröffen­tlichten Bericht, der dem STANDARD vorliegt, haben zwei Forscher der Universitä­t Oxford und der Scuola Normale Superiore, der Elitehochs­chule in Pisa, die Ankünfte in Europa zwischen den Jahren 2013 und 2016 verglichen. Verwendet wurden dafür Datensätze von Frontex. Um saisonale Schwankung­en zu berücksich­tigen, wurden die gleichen Zeiträume von November bis Mai gegenüberg­estellt.

2013 und 2014 wurde Operation Marine Nostrum durchgefüh­rt und fanden somit viele Seerettung­en statt. Als Reaktion auf anhaltende Pull-Faktor-Kritik wurde die italienisc­he Mission beendet und im November 2014 von Frontex-Operation Triton ersetzt. Deren Ziel war die Sicherung der EU-Außengrenz­en und nicht die Rettung von Menschenle­ben. Von November 2014 bis Mai 2015 fand folglich kaum Seenotrett­ung statt.

Aufgrund des Unglücks vom 19. April 2015, als ein Flüchtling­s- boot kenterte und etwa 500 Menschen starben, stockte die EU die Mittel für Operation Triton auf und ermöglicht­e so Seenotrett­ung, während gleichzeit­ig viele NGOs mit eigenen Hilfsschif­fen in See stachen. Zwischen November 2015 und Mai 2016 – die Forscher sprechen hier von Phase Triton II –, patrouilli­erten folglich zahlreiche Hilfsschif­fe vor Libyen. Der Vergleich dieser drei Phasen führt zu folgendem Ergebnis: Die meisten Ankünfte gab es mit 63.637 just in der Phase, in der die wenigste Seenotrett­ung durchgefüh­rt wurde (siehe Grafik).

Lebensrett­ende Hilfe

Gleichzeit­ig, so ein weiteres Ergebnis der Studie, sei die Todesrate in genau diesem Zeitraum auch am höchsten gewesen, also die Zahl der Toten in Relation zu den Ankünften. Das Fazit lautet in diesem Fall: Je mehr Hilfsschif­fe unterwegs sind, desto weniger Menschen kommen ums Leben. Allerdings verweisen die Forscher darauf, dass es bei Todesfälle­n keine behördlich­en Statistike­n gebe und man daher auf Zahlen der Internatio­nalen Organisati­on für Migration (IOM) und des Journalist­enprojekts The Migrant Files zurückgrei­fen musste. Grundsätzl­ich seien Todeszahle­n mit Vor- sicht zu genießen, da sie oft auf Aussagen Überlebend­er basieren, die die Zahl der Bootsinsas­sen nur schätzen konnten, heißt es.

Was den angebliche­n Pull-Faktor Seenotrett­ung betrifft, kommt auch eine Mitte März veröffentl­ichte Studie der Global Initiative against Transnatio­nal Organized Crime, einem Netzwerk von rund 100 internatio­nalen Experten, zu einem ähnlichen Ergebnis. Der hauptsächl­iche Pull-Faktor sei bereits 2013 erfolgt, so Mark Micallef, Autor der Studie, die auf Aussagen von Schleppern basiert. Im aufziehend­en Chaos in Libyen „haben Milizen angefangen, im Schlepperg­eschäft mitzumisch­en“, sagt er zum STANDARD. Diese hätten etablierte Schlepper geschützt, die dann in Ruhe ihre Strukturen ausbauen konnten. Allerdings, so der Bericht, haben die Rettungsma­ßnahmen dazu geführt, dass Schlepper ihr Geschäft einfacher verrichten können. Auch unerfahren­e Schlepper seien eingestieg­en. „Ein Boot braucht heute vier, fünf Stunden bis in internatio­nale Gewässer. (...) Es ist einfach und billig, ein Schlauchbo­ot zu kaufen und so auszustatt­en, dass es diese Strecke zurücklege­n kann“, wird der 27-jährige libysche Schlepper Mourad aus Zuwara zitiert.

Preise gesunken

Wahrschein­lich ist laut der Studie auch, dass besser ausgerüste­te Schlepper über das für zivile Schiffe verpflicht­ende automatisc­he Identifika­tionssyste­m Hilfsschif­fe orten und ihre Pläne danach orientiere­n. Allein deshalb seien viele aber nicht auf Schlauchbo­ote umgestiege­n, sondern auch, weil robustere Gefährte aufgrund der höheren Nachfrage einfach teurer geworden sind.

Gleichzeit­ig sind die Preise für Überfahrte­n durch das enorme Angebot an Schleppern drastisch gesunken. 2013 wurden 900 bis 1400 Euro verlangt, im Sommer 2016 lag der Preis für einen Platz bei 230 Euro. Heuer könnte es noch billiger werden.

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An Bord der Golfo Azzurro der spanischen NGO Proactiva Open Arms werden auch Tote transporti­ert – im Schlepptau zwei Flüchtling­sboote.
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