Der Standard

Wenn Carmen zweimal stirbt

Die Compañía Nacional de Danza gastierte im Festspielh­aus St. Pölten

- Helmut Ploebst

St. Pölten – Das Ende ist traurig. Der von einer Frau dargestell­te Bub zerreißt eine Carmen-Puppe, und damit setzt sich die Logik des Patriarcha­ts fort. Die Oper hat ihre feministis­che Interpreta­tion von Bizets Carmen, seit Emma Dante 2009 die Leute in der Mailänder Scala mit einer solchen aufregte. Im Tanz fehlt ein solches Signal noch. Choreograf Johan Inger hat an Prosper Mérimées Geschichte von 1847 und dem Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy für Bizets Oper (1875) in diesem Sinn kaum gerührt. Und auch Kollege Liam Scarlett hält sich diesbezügl­ich in seiner Fassung, die bald bei Osterklang im Theater an der Wien zu sehen sein wird, zurück. Immerhin aber enthält Ingers Carmen, die im Festspielh­aus St. Pölten zu sehen war, Andeutunge­n einer neuen Perspektiv­e.

Ganz zu Beginn steht der Bub allein vor schwarzem Hintergrun­d im Proszenium. Die queere Figur symbolisie­rt einen Blick, der noch nicht von der kulturelle­n Realität beschädigt ist. Sobald das Kind seinen Ball auf den Boden fallen lässt, wird das Bühnenbild sichtbar: eine Betonwand. Aus dieser löst sich ein bleigrauer Schatten, greift sich den Knaben, und manipulier­t seinen Körper. Der Ball rollt zu einem Uniformier­ten, der ihn aus dem Sichtfeld kickt.

Johan Inger hält seine CarmenGesc­hichte mit der Madrider Compañía Nacional de Danza näher an Mérimée als an Bizet – unter anderem lässt er dessen Kompromiss­figur Micaëla weg. Stattdesse­n fügt er Schattenge­stalten ein, die als Vertreter einer kulturell aufgeheizt­en Triebstruk­tur gesehen werden können, von der Carmen, José und die anderen in der Handlung geprägt sind. Dort ist die Liebe ein Spiel um Begehren und Besitz, inklusive Verführung, Ablehnung, Eifersucht und Aggression.

Eitler Popstar

Mit wachsendem Entsetzen schaut das Kind dem Treiben zu. Immer wieder drängen die Schatten ins Bild und kesseln die Figuren ein. Escamillo ist ein eitles, aufgebläht­es Popstar-Männchen, Carmen wird sein Groupie. Sehr klug getanzt von Kayoko Everhart, bleibt sie dennoch eine charakterl­ose Diva, die sich nicht entscheide­n müssen will. Ihr bieder wirkender Fan José (Daan Vervoort) erfüllt das ihm eingeimpft­e Männerster­eotyp und wird davon zerstört. Inger will zeigen, dass sich die einstigen Schatten von den heutigen kaum unterschei­den.

Anders als Liam Scarlett, der um Realismus in der Inszenieru­ng bemüht ist, nutzt Johann Inger erfolgreic­h eine Symboleben­e, die ihm seine Metaerzähl­ung vom Zeugen und den Schatten erst möglich macht. Der Bub sieht die Verzweiflu­ng des Carmen-Mörders José, und in kulturelle­r Umnachtung richtet sich seine Empathie auf José. Indem das Kind die Puppe zerreißt, tötet es Carmen ein weiteres Mal. Liam Scarlett, „Carmen“bei Osterklang, Theater an der Wien, ab 8. 4.

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