Überläufer und Wilde in der Politik
ÖVP lockt Wechsler, Stronach verdankt ihnen Gründung
Wien – Diesmal hat es die Neos getroffen. Einer ihrer Abgeordneten, Christoph Vavrik, wollte nicht nur seinen Hut nehmen und die pinke Fraktion im Parlament verlassen, nachdem er auf Facebook durch befremdliche Sätze zur Homosexualität auffällig geworden war (er sprach angesichts der ersten Adoption durch ein homosexuelles Paar von „gesellschaftlichen Abartigkeiten“), nein, Vavrik nahm am Donnerstag sein Nationalratsmandat mit – und brachte es der ÖVP als Gastgeschenk. In deren Klub findet der politische Überläufer zumindest bis zur Nationalratswahl Unterschlupf. Den Neos, deren Wahlliste das Gründungsmitglied Vavrik seinen Parlamentssitz und aktuell 8755,76 Euro Monatsgehalt zu verdanken hat, bleiben nach diesem Mandatstransfer noch acht Stimmen.
Der schwarze Parlamentsklub wiederum hat seit Anfang Juni 2015 insgesamt fünf „Beuteabgeordnete“eingeheimst (vier davon blieben) und ist bis dato nach der Wahl ohne Wahl bis auf ein Mandat an die SPÖ (52) herangekommen. Klubchef Reinhold Lopatka dirigiert jetzt 51 Fraktionsmitglieder und ist aktuell der erfolgreichste Überläufersammler im Hohen Haus. Wäre ihm inzwischen nicht ein Gastabgeordneter (Marcus Franz) aus fremder Fraktion (Team Stronach) wieder abhandengekommen, lägen Rot und Schwarz stimmenmäßig gleichauf.
Franz, ebenfalls mit recht eigentümlichen Ansichten zu Homosexualität („amoralisch“und „genetische Anomalie“) sowie eigenwilligen Thesen zum Reproduktionsneid der deutschen Kanzlerin aufgefallen (Angela Merkel würde als „metaphorische ,Mutti‘ des Staates“ihre Kinderlosigkeit durch die Willkommenspolitik für „viele, viele junge Migranten wieder gutmachen“wollen, postete der Arzt auf Facebook), fand ebenso Unterschlupf in Lopatkas Parlamentsklub wie der Rechtsanwalt Georg Vetter. Beide fragten an und wurden mit offenen Armen empfangen. Dass beide auch mehr Geld für den Klub der Schwarzen bedeuteten, darf unter erwünschte Nebenwirkung verbucht werden.
Nach Franz’ Merkel-Interpretationen verließ er, der nie ÖVP-Mitglied war, den ÖVP-Klub und sitzt nun als fraktionsfreier oder „wilder“Abgeordneter im Parlament.
Die zwei Monate nach ihm und Vetter an Bord des ÖVP-Klubs gekommenen Team-StronachAbtrünnigen Kathrin Nachbaur und Rouven Ertlschweiger dienen hingegen bislang unauffällig.
„Wilde“Existenzen
S ch warz-Bla u-M ehrheitsbastl ermast er mindLopatka hätte auch noch gern Jessi Lintl vom Team Stronach (davor war sie bei der VP Wien) zu sich geholt, die aber zog die „wilde“Existenz im Parlament vor – zumindest vier Monate und elf Tage, eh sie sich einen Tag vor Weihnachten 2015 der FPÖ als Zusatzstimme anbot.
Im selben Jahr haben die Blauen (38 Mandate) jedoch durch Parteiausschluss drei Sitze verloren – und dem Nationalrat drei „Wilde“beschert: Rupert Doppler, Gerhard Schmid, Susanne Winter.
Rein quantitativ, nur eben ohne nachhaltige Langzeitwirkung, war das von Frank Stronach gegründete Team das politisch erfolgreichste Crowdfunding-Modell mit Human kapitaleinsatz. Denn im Herbst 2012 verhalfen sechs Seitenwechsler (fünf aus FPÖ/BZÖMilieu bzw. akut „wild“und ein SPÖler) dem finanzpotenten Parteigründer aus dem Stand zum Klubstatus (fünf hätten gereicht).
Bei der Wahl 2013 lieferte das Team Stronach dann noch ein Kuriosum: Ex-ORF-Generalin Monika Lindner distanzierte sich noch vor der Wahl von ihrer Wahlliste. Das gewonnene Mandat nahm sie aber an und amtierte exakt 33 Tage als „wilde“Abgeordnete. Immerhin, als Lindner ging, fiel der Sitz wieder an das Team Stronach, das damit sein Allzeithoch mit elf Abgeordneten hatte – bis Sommer 2015, als die ÖVP-Lockrufe auf wechselwillige Adressaten trafen.
Churchill pendelte viermal
Ein Pendelschlag zurück ist für das Team Stronach angesichts der Umfragen eher nicht zu erwarten. Wenngleich es für einen politischen Kreistanz ein prominentes historisches Beispiel gibt: Winston Churchill (1874–1965), der legendäre britische Premierminister und spätere Nobelpreisträger, absolvierte nämlich gleich vier Seitenwechsel an drei verschiedene Ufer: Zuerst war er Konservativer, dann wechselte er von den Tories zu den Liberalen, kandidierte später als Unabhängiger, kehrte erneut zur Liberalen Partei zurück, um schlussendlich wieder dort anzukommen, wo alles angefangen hat: bei seiner Erstpartei, den Konservativen.