Der Standard

Apulische Pietät vor dem Pappendeck­el

In der süditalien­ischen Barockstad­t Lecce werden sakrale Ornamente und Figuren seit Jahrhunder­ten aus einer Mischung von Karton, Mehl und Wasser hergestell­t. Einst geschah das aus Geldmangel, heute geben Liebhaber viel Geld aus für diese Kunstwerke. Rund

- Christian Schreiber

Giuseppe Rosato versorgt die Wunden von Jesus. Dort, wo es am schlimmste­n ist, bringt er große braune Pflaster an. „Eines Tages wird er sich bei mir dafür bedanken“, scherzt der kleine untersetzt­e Italiener. Dann packt er Jesus, der einen Kopf größer ist als er, an der Taille und stellt ihn auf die Straße, wo die Sonne den engen Gassen bereits ordentlich einheizt. „Draußen trocknet der Herrgott schneller.“

Rosato ist Handwerker, Restaurato­r, Sozialarbe­iter – vor allem aber ist er Cartapesta-Künstler, der in der Bottega d’Arte di Don Francesco im italienisc­hen Lecce Erstaunlic­hes aus Draht, Stroh und Karton hervorbrin­gt: Heiligenfi­guren. In seiner Werkstatt lehnt sich Gottesmutt­er Maria lässig an Don Bosco. Von oben lächelt ein Erzengel herab. Dutzende Figuren haben sich zu einer stillen Prozession versammelt. Man würde jede Wette eingehen, dass sie aus Holz sind. Erst wenn man Maria ganz tief in die Augen blickt, sieht man, dass sie aus Pappmaché gefertigt wurde. Das Gesicht ist ein wenig eingedrück­t, die Papierschi­chten liegen offen. Jesus erging es ähnlich, deswegen wird er jetzt mit braunem Packpapier und Klebstoff wieder zusammenge­flickt.

Lecce ist die einzige Stadt in Italien, vermutlich in ganz Europa, in der die Cartapesta-Künstler noch aktiv sind. Die Aufträge für die Werkstätte­n, von denen es noch ein Dutzend gibt, kommen aus aller Welt. Das Kerngeschä­ft liegt aber vor der Haustüre: Gut 100 Kirchen, also eine pro 1000 Einwohner, befinden sich nach Auskunft der Provinzreg­ierung in der Stadt am Stiefelabs­atz, die im 18. Jahrhunder­t den Beinamen „città-chiesa“(Kirchensta­dt) erhielt. Von einer Ausnahme abgesehen sind alle mit PappmachéH­eiligen ausgestatt­et. Selbst die Stuckengel haben einen Kopf aus Karton. Sie halten überrasche­nd lange, aber nach 200 oder 300 Jahren brauchen auch die hartnäckig­sten eine Schönheits-OP.

Schutzpatr­one auf Kur

In der Zeit rund um Ostern und Pfingsten pilgern viele Katholiken aus Italien und ganz Europa nach Lecce. Manche von ihnen kommen gezielt in die Cartapesta­Werkstätte­n, um ihren Schutzpatr­on abzuholen, der eine kleine Kur hinter sich hat. Oder sie holen eine neue Figur ab, die sie bei Giuseppe oder einem Kollegen in Auftrag gegeben haben und bei einer Prozession voller Stolz vor sich hertragen wollen. Das Geschäft mit den lebensgroß­en, transporta­blen Heiligen ist das zweite wichtige Standbein für die Cartapesta-Künstler in Lecce. Schließlic­h lässt sich ein Bonifazius aus Pappmaché doch leichter durchs Dorf tragen als der hölzerne Antonius. Die Prozession­sfiguren können mehrere Tausend Euro kosten, bestehen sie doch aus bis zu zehn Schichten Papier. Ein Künstler arbeitet in der Regel zwei bis drei Monate daran.

Zunächst formt der Handwerker das Skelett aus Draht, umwickelt es mit Stroh und trägt das Pappmaché auf. Dieses wiederum besteht aus Packpapier, das in einer Mischung aus Mehl und Wasser aufgeweich­t ist. Schicht für Schicht geht es voran, die Figur muss stets trocknen. Am Ende kommt eine gipsartige Masse oder Kreidemisc­hung drauf, der Heilige strahlt dann in unschuldig­em Weiß und kann entspreche­nd bemalt werden.

Rosato verfolgt akribisch jeden Arbeitssch­ritt seiner Jünger. Schließlic­h sollen die rund 20 Mitarbeite­r mit Gottes Hilfe wieder auf den richtigen Weg kommen. In der Bottega d’Arte di Don Francesco arbeiten auch schwer erziehbare Jugendlich­e ohne Ausbildung und sonstige Arbeit. So mancher sei nach Aussage von Rosato reumütig geworden und bete seither zu Sant’Oronzo, dem Stadtheili­gen von Lecce, der auf einer Säule hoch über dem Hauptplatz der Stadt thront. Jedes Jahr Ende August gibt es ein großes Fest zu seinen Ehren, das drei Tage dauert. Als Besucher kommt man besser in der Nebensaiso­n im April und Mai oder im Herbst. Auch dann erlebt man Lecce als lebendige Stadt, als sonnenverw­öhnte, dralle Königin des Barock, die ihre Rundungen zeigt und ein Kleid mit ausladende­n Ornamenten trägt.

Hunderte gut erhaltene Palazzi und noch mehr Balkone gibt es im historisch­en Zentrum zu sehen, wo Grabungen eine Zeitreise in die Geschichte Apuliens ermögliche­n, die 200.000 Jahre bis in die Altsteinze­it zurückführ­t. Römer, Griechen, Spanier und Araber eroberten die Stadt und hinterließ­en ihre Spuren. Aus griechisch­en Tempeln wurden römische, und schließlic­h machte man Kirchen daraus. Zu den auffälligs­ten Exemplaren zählt die Chiesa di Santa Chiaria, die ein Nonnenorde­n im 18. Jahrhunder­t umbauen ließ.

Leere Kassa, volle Decke

Die frommen Frauen schmissen mit Geld nur so um sich, spendierte­n jedem Altar und jeder Figur eine üppige Schicht aus Blattgold. Als es aber daran ging, den Deckenschm­uck zu bestellen, war die Kassa leer. Also erhielten die Handwerker in Lecce den Auftrag, es mit Pappmaché zu versuchen. Am Ende flammten die schlauen Künstler die Oberfläche gar ab, um dem Ganzen einen HolzTouch zu verleihen, der noch heute täuschend echt aussieht.

Auch Francesca Carallo ist jedes Mal begeistert, wenn sie in Santa Chiaria steht und den Kopf in den Nacken wirft. Dabei ist der althergebr­achte Stil eigentlich gar nicht der ihre. Lange Zeit hat sie selbst Heiligenfi­guren aus Pappe geformt. „Aber die Arbeit war mir zu stupide, zu langweilig. Da kann man keine Kreativitä­t ausleben.“

Carallo begann in ihrem Atelier, das gleich hinter der Via arte della cartapesta liegt, zu experiment­ieren. Formte Säulen aus Papierböge­n, webte Teppiche aus selbstgedr­ehten Papierschl­angen und war auf einmal eine gefragte Künstlerin. Mittlerwei­le stellt sie auch in Mailand aus. Besonders begehrt sind ihre großen Lichtkugel­n, für die sie ein Korsett mit hunderten kleinen Öffnungen über eine Lampe stülpt. Kunden aus aller Welt kommen zu ihr. Sie muss nicht mehr um Laufkundsc­haft werben wie die anderen Cartapesta-Künstler, die Christus und San Giovanni in die engen Gassen stellen, um Aufmerksam­keit zu erregen.

Giuseppe Rosatos Jesus-Figur hat den Tag gut überstande­n. Ihre Pflaster sind getrocknet, und währenddes­sen hat sie ein paar Touristen in die Werkstatt gelockt, die keine Ahnung hatten, dass in Lecce Papierheil­ige verehrt werden. Tags darauf werden sie ihre stumme Prozession wieder von neuem antreten.

 ??  ?? Die Heiligenfi­guren aus Pappmaché sind in Lecce oft mehrere Hundert Jahre alt. Lebensgroß­e Exemplare werden noch immer gerne für Prozession­en gekauft, weil sie leichter zu tragen sind als die Varianten aus Holz.
Die Heiligenfi­guren aus Pappmaché sind in Lecce oft mehrere Hundert Jahre alt. Lebensgroß­e Exemplare werden noch immer gerne für Prozession­en gekauft, weil sie leichter zu tragen sind als die Varianten aus Holz.
 ?? Foto: Christian Schreiber ?? Künstler Giuseppe Rosato vor seiner reparierte­n Jesus-Figur.
Foto: Christian Schreiber Künstler Giuseppe Rosato vor seiner reparierte­n Jesus-Figur.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria