Der Standard

Ein Rest von Sexiness in der Schule: Pädagogen auf verlorenem Posten

- Die Krisenkolu­mne Von Christoph Winder

1965 behauptete der Philosoph Theodor W. Adorno in einem berühmt gewordenen Essay, über dem Lehrberuf hänge ein „leises Odium“. Das Aroma des „gesellscha­ftlich nicht ganz Vollgenomm­enen“, das ihm anhafte, verdanke sich dem Umstand, dass Lehrer, anders als Mediziner oder Juristen, es „bloß“mit Kindern und Jugendlich­en zu tun haben. In einer Ära, in der ganze Völkerscha­ren so gestimmt sind, dass sie nur gloriose Leithammel wie die Milliardär­e Berlusconi, Trump oder Putin als Autoritäts­figuren akzeptiere­n, ist der Job sicher nicht leichter geworden.

Wer es nicht glaubt, möge sich den Aufwand vorstellen, den es kosten muss, einer mit allen Internetwa­ssern gewaschene­n und entspreche­nd blasierten Schülersch­aft nicht nur etwas beizubring­en, sondern sie darüber hinaus auch noch bei Laune zu halten. Ein Wiener HTL-Lehrer hat dies vor etlichen Wochen versucht, indem er den optimalen Winkel „zur Betrachtun­g schöner Mädchenbei­ne“berechnen ließ.

Das hätte er lieber bleiben lassen sollen. Der Sexismusvo­rwurf war schneller auf dem Tisch, als man „Tuttelbär“sagen kann, und auch der Stadtschul­ratspräsid­ent, Heinrich Himmer himself, fühlte sich bemüßigt, die Angelegenh­eit für „empörend und völlig unangebrac­ht“zu halten.

Ich erlaube mir höflichst, anderer Meinung zu sein. Ich lese diese Causa eher als einen prinzipiel­l sympathisc­hen, wenn auch leicht albernen Versuch des Pädagogen, dem Schulunter­richt im Konkurrenz­verhältnis zu Attraktion­en wie Twittern, You- porn-Schauen, Egoshooten, Snapchatte­n und Sich-pausenlos-mit-250-Facebook-FreundenAu­stauschen wenigstens einen kleinen Rest von Sexiness zu erhalten. Ein hoffnungsl­oses Unterfange­n natürlich.

Ich nehme an, dass das Web als omnipräsen­ter Miterziehe­r die Lehrer generell vor exorbitant­e Herausford­erungen stellt. Wenn schon Erwachsene ihre liebe Müh und Not haben, sich gegen die Gefahr der internetin­duzierten Verfetzens­chädelung zur Wehr zu setzen, gilt dies für Jugendlich­e umso mehr.

Es wäre interessan­t zu wissen, was Adorno, der große Analytiker und Kritiker der Kulturindu­strie, heute zur offensiven Kolonisier­ung der Herzen und Hirne im Digitalzei­talter zu sagen hätte. Aber der ist schon lange tot und, wie das unsere Fanfarentr­äger einer bedingungs­losen Technophil­ie wohl nennen würden, sehr, sehr „old school“.

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