Der Standard

Von A wie Antwerpen bis X wie Tschernoby­l

Die autobiogra­fischen Stadtreise­n des ukrainisch­en Schriftste­llers Juri Andruchowy­tsch verwandeln Geografie in Poesie.

- Gerhard Zeillinger

Das Abc dieser Städte ist so individuel­l wie lehrreich und unterhalts­am. Was Antwerpen, Czernowitz, Detroit, Graz, Moskau, Riga, Uschhorod oder Venedig gemeinsam haben, ist die Bekanntsch­aft, die sie irgendwann in den vergangene­n bald 50 Jahren mit Juri Andruchowy­tsch gemacht haben. Dass man dabei mehr über den Stadtbesuc­her erfährt als über die jeweilige Stadt selbst, tut der Sache keinen Abbruch. Andruchowy­tsch ist kein Flaneur im klassische­n Sinn, vielmehr ein neugierige­r Erkunder, ein Sammler von Erfahrunge­n, und diese sind unterschie­dlich genug, um für literarisc­he Abwechslun­g zu sorgen.

Zum Beispiel München 1992, für den Autor die erste Begegnung mit dem Westen, die „erste Stadt des Okzidents in meinem Leben“. Damals ist er 32 und erlebt als Stipendiat den „Schock des Reichtums“, schon die Fahrt im ICE kommt ihm wie eine Zeitreise vor. Es kommt zu herrlichen Missverstä­ndnissen: In München hört er zum ersten Mal das Wort Fasching und denkt sich: Natürlich, München war ja die „Hauptstadt der Bewegung“. Erst später erfährt er, „dass ‚Fasching‘ und ‚Faschismus‘ nicht dasselbe bedeuten“.

Ein anderes Missverstä­ndnis erlebt er später in Graz, als er mit dem Flugzeug in Thalerhof landet und sich wundert, wie ein Flughafen so heißen kann: In der Ukraine ist „Thalerhof“als Konzentrat­ionslager des Ersten Weltkriegs bekannt, in dem 1914/15 mehr als dreitausen­d Menschen zu Tode kamen, ukrainisch­e Zivilisten, die als „Russenfreu­nde“hierhin deportiert wurden – nur dass man in Graz nichts davon weiß …

Oder Novi Sad, „eine kurze, aber starke Erinnerung“– stark, weil von hochprozen­tigem Raki umwölkt, der dem Autor an der philosophi­schen Fakultät kredenzt wird. Aber eigentlich ist es das „Gefühl, zu Hause zu sein“: Die Wojwodina erinnert ihn an das heimatlich­e Galizien, auch hier würde noch ein altösterre­ichischer Schatten wachen. In Wirklichke­it ist Novi Sad eine Stadt der zerstörten Brücken. Als Andruchowy­tsch im Herbst 2002 erstmals hierherkom­mt, gibt es keinen Übergang über die Donau, eine Folge des unseligen Jugoslawie­nkriegs. 2014, bei seinem zweiten Besuch, wird noch immer vom Krieg erzählt. Zur selben Zeit ist „Krieg“in der Ukraine bereits das häufigste Wort.

Nicht nur die Städte liegen offenbar eng beisammen, auch die Zeiten, durch die man in beiden Richtungen reisen kann. An das Alphabet muss man sich dabei nicht halten, man kann in diesem kurzweilig­en Buch ganz nach Belieben nachschlag­en: Von Odessa an einem nasskalten Novemberta­g 1994 ist es nur ein Sprung nach Prag, das der Autor im Juli 1968 als den „fröhlichst­en Ort auf Erden“erlebte. Andruchowy­tsch ist ein begeistert­er und begeistern­der Landvermes­ser, vor allem ein „poetischer“, wie er in der FAZ einmal bezeichnet wurde. Nicht zufällig heißt sein Lexikon im Untertitel Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolit­ik.

Ein Geopoet, der es versteht, Geografie in Poesie zu verwandeln, ist Juri Andruchowy­tsch gewiss. Die Idee, seine Stadterfah­rungen in ein topografis­ches Lexi- kon zu fassen, hat er schon länger mit sich herumgetra­gen. Bei der Übersetzun­g ins Deutsche musste allerdings die Abfolge der Städte verändert werden, weil das ukrainisch­e Alphabet eine andere Reihenfolg­e und mehr Buchstaben hat. Doch die deutsche Übersetzun­g gibt ohnehin nur eine Auswahl aus den ursprüngli­ch 111 Stadtportr­äts wieder – 39 sind es in diesem Band, mit über 400 Seiten dennoch eine ansehnlich­e Sammlung. Übrigens, für den Buchstaben X hat Andruchowy­tsch eine geniale Lösung gefunden. Da er nicht eigens nach China oder nach Xanthen reisen wollte, hat er sich eingedenk des X der radioaktiv­en Strahlen für einen Ort entschiede­n, der 1986 von der Landkarte verschwand. X steht für Tschernoby­l, und der Zufall wollte es, dass ein Künstler für das bekanntest­e Café von X einst ein Glasfenste­r geschaffen hatte, das den letzten Tag von Pompeji darstellte – ein seltsamer „Katastroph­ismus“, zumal die Bürger von Tschernoby­l genauso wenig wie jene in der Antike ahnen konnten, was ihnen bevorstand.

We love Centralia

Ähnlich erlebte Andruchowy­tsch die Stadt Centralia in den USA, die am Kohlebergb­au zugrunde ging und aufgegeben werden musste, als die Kohle unter der Erde zu brennen anfing. Das war 1962, seither konnte der Brand unter dem Stadtgebie­t, der nahezu die gesamte Region unbewohnba­r gemacht hat, nicht gelöscht werden. Als Andruchowy­tsch die Geistersta­dt 2001 besuchte, entdeckte er Spuren jener Arbeitsmig­ranten, die einst mit großen Hoffnungen hierhergek­ommen waren, um nach dem schwarzen Gold zu schürfen: die Lemken, Angehörige eines russinisch­en Volksstamm­es, der einst in den Ostkarpate­n siedelte. Auch aus Centralia sind sie heute verschwund­en, auf einem Blechkranz aber haben sie eine letzte Botschaft hinterlass­en: „WE LOVE CENTRALIA“. „Hätte jetzt jemand Road Trippin’ gespielt“– den Song einer kalifornis­chen Rockband –, „es wäre um mich geschehen gewesen“, schreibt Andruchowy­tsch. „Ich wäre dort geblieben.“

Auch Czernowitz, wohin der Autor seit 1983 immer wieder kommt, ist eine Totenstadt, in der gerne zu bleiben wäre. Einst wurden hier fünf Sprachen gesprochen, eine Stadt der Dichter und der jüdischen Kultur war dieser östlichste Außenposte­n der Monarchie. Aber das war einmal, jetzt ist die Stadt bloß noch „ein Gebietszen­trum in der heutigen Ukraine“. So grau, so nichtssage­nd wirklich? Mitnichten, setzt Andruchowy­tsch entgegen. Das Leben habe immer Raum für Utopie, und „Czernowitz ist einer jener Orte, wo die Utopie nicht nervt, sondern froh macht.“Sätze wie diese kann man nur als schön bezeichnen. Einmal heißt es auch: „In Lemberg gibt es keine Donau, aber ihre Nähe ist manchmal sehr deutlich zu spüren.“Lemberg ist die „Lieblingss­tadt“des Autors.

Juri Andruchowy­tsch, „Kleines Lexikon intimer Städte. Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolit­ik“. € 24,70 / 416 Seiten. Insel-Verlag, Berlin 2016 Standard: Sie arbeiten als Übersetzer­in und Dolmetsche­rin, unter anderem im Bereich der Psychother­apie. Die Protagonis­tin Ihres Romans „Reibungsve­rluste“, Nora, ist ebenfalls Dolmetsche­rin für Psychother­apiesitzun­gen. Wie autobiogra­fisch ist der Roman?

Die Geschichte­n als solche – auch jene von Nora – sind jedenfalls alle erfunden. Ich könnte nicht sagen, dass sie so wie ich wäre, auch wenn sie vielleicht die eine oder andere Ähnlichkei­t mit mir hat. Was sehr wohl autobiogra­fisch ist, ist meine Wahrnehmun­g dieses Arbeitsber­eichs und der allgemeine Tonfall.

Standard: Hatten Sie angesichts Ihrer eigenen Arbeit Bedenken, den Roman zu veröffentl­ichen?

Das hat mich tatsächlic­h lange beschäftig­t. Obwohl, wie gesagt, alle Menschen und Geschichte­n erfunden sind, habe ich lange gezögert, bevor ich es Leuten in meinem Arbeitsumf­eld gezeigt habe, weil ich schon mit kritischen Reaktionen gerechnet habe. Ich war dann erleichter­t, als ich gemerkt habe, dass sie nicht nur nichts dagegen haben, sondern das Buch total unterstütz­en.

Standard: Sie sind ja halbe Russin und halbe Serbin. War für Sie klar, dass Sie den Roman auf Deutsch schreiben?

Ja. Deutsch ist meine erste Sprache, meine Bildungssp­rache. Insofern hat sich die Frage der Sprache für mich gar nicht gestellt.

Standard: Im Text kommen immer wieder russische Worte und Ausdrücke vor. Welchen Zweck verfolgen Sie mit diesen russischen Einsprengs­eln?

Ich wollte einfach zeigen, wie Übersetzen oder Dolmetsche­n meiner Meinung nach funktionie­rt, wie man dabei denkt. Wenn man sich wissenscha­ftlich mit dem Übersetzen und Dolmetsche­n befasst, kann man ja meistens nur mit dem arbeiten, was da ist, also mit den Dingen, die sprachlich vor einem liegen. Das, was man aber nicht zur Verfügung hat, ist eigentlich der Punkt, an dem sich der Prozess wirklich abspielt, diese Blackbox des Kopfes. Ich finde, dass Literatur dafür am besten geeignet ist, diesen Denkprozes­s in Ansätzen auch aufzuzeige­n. Ich wollte also diese Blackbox etwas offenlegen.

Standard: Sie sprechen immer von Übersetzen und Dolmetsche­n. Auch im Buch selbst wird auf diese Unterschei­dung mehrmals hingewiese­n. Was davon ist Ihnen näher, was fällt Ihnen schwerer?

Genau, es gibt diese Unterschei­dung, Dolmetsche­n ist das Mündliche und Übersetzen das Schriftlic­he. Ich selbst habe beides studiert, und ich konnte mich schon an der Universitä­t nicht entscheide­n. Bis jetzt mache ich immer noch beides. Und ich brauche auch beides. Ich schätze die kommunikat­ive Komponente des Dolmetsche­ns sehr, es ist lebendiger, die Zeit vergeht schneller. Auch wenn ein Thema gerade nicht so interessan­t ist, der Kopf ist trotzdem immer gefordert, in jedem Moment zu funktionie­ren. Beim Übersetzen wiederum schätze ich den Rückzug, die Genauigkei­t und den Umstand, dass man es ganz allein macht. Ich finde, beide Aufgaben ergänzen sich gut. Sie erfordern aber auch ganz unterschie­dliche Aspekte. Das Übersetzen erfordert mehr Sorgfalt. Wenn ich viel dolmetsche, neige ich manchmal dazu, ein bisschen schlampig zu werden. Und beim Übersetzen geht es eben nicht darum, möglichst schnell zu sein, sondern möglichst genau.

Standard: Wann haben Sie begonnen, an dem Roman zu arbeiten? Hatte das auch mit der Aktualität des Flüchtling­sthemas in den vergangene­n zwei Jahren zu tun?

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr ganz genau, wann ich begonnen habe, an dem Buch zu

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