Und die Vögel erfroren im Flug
Philipp Blom legt eine dramaturgisch raffinierte, inhaltlich sacht enttäuschende Darstellung der Kleinen Eiszeit und ihrer Folgen vor.
schreiben – vielleicht vor drei Jahren. Ich arbeite jetzt seit zwölf Jahren als Dolmetscherin in der Psychotherapie. Es ist für mich also ein kontinuierliches, langfristig wichtiges Thema. Und jetzt ist natürlich alles noch viel größer und dringlicher geworden. Das hat meine eigene Beschäftigung damit aber nicht wirklich verändert. Dass das Buch genau jetzt erschienen ist, ist ein Zufall. Ich hätte es auch schon viel früher schreiben wollen oder vielleicht auch sollen. Das habe ich aber nicht gemacht.
Standard: Würden Sie Ihr Buch als politisches Buch bezeichnen?
Nein, es war nicht meine Absicht, ein politisches Buch zu schreiben. Es war mir wichtig, wirklich Menschen zu zeigen, Menschen zu erfinden und nicht Abziehbilder. Ich wollte nicht, dass es auf der einen Seite die Tschetschenen gibt und auf der anderen Seite die Österreicher. Hier die Dolmetscher, da die Therapeuten und dort die Flüchtlinge. Ich wollte verschiedene Biografien einfach nebeneinander stehen lassen. Dass es diesen Arbeitsbereich überhaupt gibt, ist ja ein Produkt verschiedener Politiken, die absichtlich oder unabsichtlich diese Situationen produzieren. Dass es insofern schon auch ein politisches Buch geworden ist, ist aber ein Nebenprodukt. Standard: Ein spannendes Thema in Ihrem Roman ist das Verhältnis der Protagonistin zu Literatur. Sie liest sehr viel, Literatur hat einen großen Einfluss auf sie. Doch dann erlegt sie sich plötzlich ein Leseverbot auf. Was hat es damit auf sich?
Für mich stellt sich die Frage, ob Lesen nicht manchmal auch eine Art Realitätsflucht ist, ein Schutzschild gegen das Leben. Ob Er-Lesen nicht auch in Konkurrenz steht zum Er-Leben. Und Nora fragt sich, ob das viele Lesen auf Kosten ihres Erlebens geht. Am Ende kommt sie aber drauf, dass ohne diese Möglichkeit der Realitätsflucht die Realität oft nicht zu ertragen ist. Manchmal muss man sich in diese geschriebenen, erfundenen Realitäten zurückziehen. Das ist nicht nur eine Frage der Bildung, sondern auch ein emotionales Bedürfnis.
Standard: Sie lesen selbst auch so viel wie Ihre Protagonistin?
Phasenweise – wobei ich sagen muss, dass mein Leseverhalten früher näher an dem dran war, wie man meiner Meinung nach mit Büchern umgehen sollte. Ich kann nicht mehr so gut eintauchen, ich habe weniger Geduld und lege mehr Bücher weg. Lesen steht, gerade wenn man mit Sprache arbeitet, auch immer ein bisschen in Konkurrenz zu Sprachproduktion oder Lesen für die Arbeit. Standard: Apropos Sprachproduktion: „Reibungsverluste“ist Ihr Debüt. Haben Sie schon eine Idee für einen neuen Text?
Ehrlich gesagt: nein. Ich bin und bleibe auch Übersetzerin und Dolmetscherin. Ich habe das Gefühl, diese Geschichte musste ich einfach schreiben. Aber darüber hinaus weiß ich kein Thema, das mich so fesseln würde, dass ich noch einmal einen Roman schreiben könnte. Aber es wäre schön, und ich hoffe darauf. Aber es kann gut sein, dass dieses Buch mein erstes und letztes ist. Ich sehe auch keinen Druck, dass unbedingt etwas kommen muss. Ich finde, man darf auch einfach nur ein Buch geschrieben haben – und dann trotzdem so weiterleben wie bisher. Ich bin gespannt, wie mir das gelingt.
Mascha Dabić, geboren in Sarajevo, lebt und arbeitet als Übersetzerin und Dolmetscherin in Wien. Sie übersetzt literarische Werke aus dem Balkanraum. Gleichzeitig arbeitet sie als Dolmetscherin im Asylbereich und lehrt an den Universitäten Innsbruck und Wien.
Mascha Dabić, „Reibungsverluste. Roman“. € 18,– / 152 Seiten. Edition Atelier, Wien 2017
Einer ist auf die Nase gefallen. Andere bewegen sich leicht voran. Sie genießen das Gleiten. Wieder andere spielen so etwas wie eine frühe Variante von Hockey. Ein Paar hält sich an den Händen. Sie alle genießen das Eis auf dem Fluss, den Winter, die Kälte. Und dass sie sich auf dem gefrorenen Wasser auf Kufen voranbewegen können.
Hendrick Avercamps Winterlandschap met ijsvermak (Winterlandschaft mit Eisläufern), entstanden um 1608, ist wohl eine der anmutigsten, sicherlich eine der heitersten und am reichsten bevölkerten Wimmeldarstellungen von Winterfreuden in den Niederlanden um 1600.
Dass das Rijksmuseum in Amsterdam, das diese nur 132 auf 76 Zentimeter messende Arbeit des taubstummen Künstlers besitzt, der 1634 mit 49 Jahren gestorben war, diesem vor acht Jahren eine kleine Retrospektive widmete, ist verständlich. Denn bei diesen Darstellungen ist Kunstgeschichte zugleich pittoreske Kulturgeschichte. Denn wieso, fragt man sich, konnten die Holländer damals auf dem Land auf zugefrorenen Gewässern dem Schlittschuhlaufen frönen, wieso gab es damals in London auf der Themse Straßenbuden und einen Jahrmarkt inklusive geschäftstüchtiger Drucker, die eigens Erinnerungsblätter auf dem Eis druckten und feilhielten?
Pointillistische Eleganz
Die Erklärung dafür ist die sogenannte Kleine Eiszeit zwischen etwa 1570 und ungefähr 1690 in Europa. Diesem klimahistorischen Phänomen und seinen kulturhistorischen Ableitungen wie Folgen, von Hunger über Krieg bis zur Ökonomie, widmet Philipp Blom sein neues Buch. Der 1970 geborene, in Oxford ausgebildete und seit mehreren Jahren in Wien ansässige Deutsche, der das Kunststück fertiggebracht hat, in den letzten Monaten im selben Verlagshaus einen Roman und jetzt ein historisches Sachbuch herauszubringen, zeigt gleich zu Beginn, was bereits seine Bücher über das Sammeln, die Aufklärung und das 19. Jahrhundert auszeichnet.
Es ist sein smartes historisches Parlando, durchwirkt von aussagekräftigen Anekdoten und herausgehobenen Einzelschicksalen, es sind die festen Striche, es ist die klare Sprache, die atmosphärische Dichte und die überzeugende Dramaturgie. Diese pointillistische Eleganz macht den Reiz der Blom’schen Bücher aus. Deshalb greift man zu seinen Panoramen, und nicht zu schwergängiger Fach- und Forschungsliteratur. Der Kunstfertigkeit der leichthändigen Synthese verdankt sich die weite Verbreitung, weniger eigenen archivalischen Funden oder der Aufarbeitung entlegener historischer Originaldokumente.
Avercamps Winterlandschaft ist Bloms Einstieg. Verhandelt wird von ihm die Frage, wie sich Kulturen, Regionen, Länder, Zivilisationen, Hemisphären ändern, wenn sich das Klima verändert. Informiert zeichnet er die Transformation ab 1570, als es in Europa kälter wurde, zu Fernhandel, Fremdproduktion und internationalen Handelsmärkten nach – inklusive Kolonialismus, Sklavenhandel sowie Landflucht und Stadtzuzug – und infolgedessen zum Aufkommen einer Mittel- schicht, zu breiterer Bildung und dem Herausfordern des Adels.
Doch es mutet mehr als nur irritierend an, wenn zusehends deutlich wird, dass sich Blom von den geoklimatischen Verhältnissen zu einem sicheren und ihm vertrauten geistesgeschichtlichen Ufer, jenem des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, schreibt. Bei den durchaus gelungenen Porträts von Pierre Bayle, Baruch de Spinoza und einer vernichtenden Kurzvignette Voltaires ist das Wetter dann längst dem Blick entschwunden.
Etwas kurios mutet auch an, dass mancher deutschsprachige Titel in der umfangreichen Bibliografie nicht in der Originalausgabe aufgelistet wird, sondern in der englischen oder amerikanischen Übersetzung. Freudianisch aufschlussreich ist, dass ausgerechnet in diesem umfangreichen Literaturverzeichnis, aus dem Blom wie üblich nur punktuell direkt zitiert, beim ausnehmend gelehrten Buch des englischen und in den USA lehrenden Militärhistorikers Geoffrey Parker Global Crisis von 2013 ein unübersehbarer Fehler von Autor, Setzer und Korrektor übersehen worden ist. Zufall oder subkutane Hommage? Wer Parkers exzellente 872 Seiten über Krieg, Klimawandel und Katastrophen im 17. Jahrhundert gelesen hat, der dürfte Bloms Band eher als dramaturgisch raffinierte Petitesse einstufen.
Vollends enttäuschend ist der Ausklang. Das Schlusskapitel, die im Untertitel annoncierten Überlegungen zum Klima der Gegenwart, ist ein erzwungener Anschluss an die Jetztzeit. Es ist überflüssig und wohlfeil. Denn in dieser Betrachtung über Neoliberalismus und Klima, Anthropologie und Politik entpuppt sich die Argumentation als überschaubar originell. Kein pseudokritisches Klischee wird ausgelassen. Hier spurt Philipp Blom nur die Trampelpfade eines medioker eingefrorenen Mainstreams nach.
Philipp Blom, „Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart“. € 24,70 / 304 Seiten. Hanser, München 2017