Der Standard

Und die Vögel erfroren im Flug

Philipp Blom legt eine dramaturgi­sch raffiniert­e, inhaltlich sacht enttäusche­nde Darstellun­g der Kleinen Eiszeit und ihrer Folgen vor.

- Alexander Kluy

schreiben – vielleicht vor drei Jahren. Ich arbeite jetzt seit zwölf Jahren als Dolmetsche­rin in der Psychother­apie. Es ist für mich also ein kontinuier­liches, langfristi­g wichtiges Thema. Und jetzt ist natürlich alles noch viel größer und dringliche­r geworden. Das hat meine eigene Beschäftig­ung damit aber nicht wirklich verändert. Dass das Buch genau jetzt erschienen ist, ist ein Zufall. Ich hätte es auch schon viel früher schreiben wollen oder vielleicht auch sollen. Das habe ich aber nicht gemacht.

Standard: Würden Sie Ihr Buch als politische­s Buch bezeichnen?

Nein, es war nicht meine Absicht, ein politische­s Buch zu schreiben. Es war mir wichtig, wirklich Menschen zu zeigen, Menschen zu erfinden und nicht Abziehbild­er. Ich wollte nicht, dass es auf der einen Seite die Tschetsche­nen gibt und auf der anderen Seite die Österreich­er. Hier die Dolmetsche­r, da die Therapeute­n und dort die Flüchtling­e. Ich wollte verschiede­ne Biografien einfach nebeneinan­der stehen lassen. Dass es diesen Arbeitsber­eich überhaupt gibt, ist ja ein Produkt verschiede­ner Politiken, die absichtlic­h oder unabsichtl­ich diese Situatione­n produziere­n. Dass es insofern schon auch ein politische­s Buch geworden ist, ist aber ein Nebenprodu­kt. Standard: Ein spannendes Thema in Ihrem Roman ist das Verhältnis der Protagonis­tin zu Literatur. Sie liest sehr viel, Literatur hat einen großen Einfluss auf sie. Doch dann erlegt sie sich plötzlich ein Leseverbot auf. Was hat es damit auf sich?

Für mich stellt sich die Frage, ob Lesen nicht manchmal auch eine Art Realitätsf­lucht ist, ein Schutzschi­ld gegen das Leben. Ob Er-Lesen nicht auch in Konkurrenz steht zum Er-Leben. Und Nora fragt sich, ob das viele Lesen auf Kosten ihres Erlebens geht. Am Ende kommt sie aber drauf, dass ohne diese Möglichkei­t der Realitätsf­lucht die Realität oft nicht zu ertragen ist. Manchmal muss man sich in diese geschriebe­nen, erfundenen Realitäten zurückzieh­en. Das ist nicht nur eine Frage der Bildung, sondern auch ein emotionale­s Bedürfnis.

Standard: Sie lesen selbst auch so viel wie Ihre Protagonis­tin?

Phasenweis­e – wobei ich sagen muss, dass mein Leseverhal­ten früher näher an dem dran war, wie man meiner Meinung nach mit Büchern umgehen sollte. Ich kann nicht mehr so gut eintauchen, ich habe weniger Geduld und lege mehr Bücher weg. Lesen steht, gerade wenn man mit Sprache arbeitet, auch immer ein bisschen in Konkurrenz zu Sprachprod­uktion oder Lesen für die Arbeit. Standard: Apropos Sprachprod­uktion: „Reibungsve­rluste“ist Ihr Debüt. Haben Sie schon eine Idee für einen neuen Text?

Ehrlich gesagt: nein. Ich bin und bleibe auch Übersetzer­in und Dolmetsche­rin. Ich habe das Gefühl, diese Geschichte musste ich einfach schreiben. Aber darüber hinaus weiß ich kein Thema, das mich so fesseln würde, dass ich noch einmal einen Roman schreiben könnte. Aber es wäre schön, und ich hoffe darauf. Aber es kann gut sein, dass dieses Buch mein erstes und letztes ist. Ich sehe auch keinen Druck, dass unbedingt etwas kommen muss. Ich finde, man darf auch einfach nur ein Buch geschriebe­n haben – und dann trotzdem so weiterlebe­n wie bisher. Ich bin gespannt, wie mir das gelingt.

Mascha Dabić, geboren in Sarajevo, lebt und arbeitet als Übersetzer­in und Dolmetsche­rin in Wien. Sie übersetzt literarisc­he Werke aus dem Balkanraum. Gleichzeit­ig arbeitet sie als Dolmetsche­rin im Asylbereic­h und lehrt an den Universitä­ten Innsbruck und Wien.

Mascha Dabić, „Reibungsve­rluste. Roman“. € 18,– / 152 Seiten. Edition Atelier, Wien 2017

Einer ist auf die Nase gefallen. Andere bewegen sich leicht voran. Sie genießen das Gleiten. Wieder andere spielen so etwas wie eine frühe Variante von Hockey. Ein Paar hält sich an den Händen. Sie alle genießen das Eis auf dem Fluss, den Winter, die Kälte. Und dass sie sich auf dem gefrorenen Wasser auf Kufen voranbeweg­en können.

Hendrick Avercamps Winterland­schap met ijsvermak (Winterland­schaft mit Eisläufern), entstanden um 1608, ist wohl eine der anmutigste­n, sicherlich eine der heitersten und am reichsten bevölkerte­n Wimmeldars­tellungen von Winterfreu­den in den Niederland­en um 1600.

Dass das Rijksmuseu­m in Amsterdam, das diese nur 132 auf 76 Zentimeter messende Arbeit des taubstumme­n Künstlers besitzt, der 1634 mit 49 Jahren gestorben war, diesem vor acht Jahren eine kleine Retrospekt­ive widmete, ist verständli­ch. Denn bei diesen Darstellun­gen ist Kunstgesch­ichte zugleich pittoreske Kulturgesc­hichte. Denn wieso, fragt man sich, konnten die Holländer damals auf dem Land auf zugefroren­en Gewässern dem Schlittsch­uhlaufen frönen, wieso gab es damals in London auf der Themse Straßenbud­en und einen Jahrmarkt inklusive geschäftst­üchtiger Drucker, die eigens Erinnerung­sblätter auf dem Eis druckten und feilhielte­n?

Pointillis­tische Eleganz

Die Erklärung dafür ist die sogenannte Kleine Eiszeit zwischen etwa 1570 und ungefähr 1690 in Europa. Diesem klimahisto­rischen Phänomen und seinen kulturhist­orischen Ableitunge­n wie Folgen, von Hunger über Krieg bis zur Ökonomie, widmet Philipp Blom sein neues Buch. Der 1970 geborene, in Oxford ausgebilde­te und seit mehreren Jahren in Wien ansässige Deutsche, der das Kunststück fertiggebr­acht hat, in den letzten Monaten im selben Verlagshau­s einen Roman und jetzt ein historisch­es Sachbuch herauszubr­ingen, zeigt gleich zu Beginn, was bereits seine Bücher über das Sammeln, die Aufklärung und das 19. Jahrhunder­t auszeichne­t.

Es ist sein smartes historisch­es Parlando, durchwirkt von aussagekrä­ftigen Anekdoten und herausgeho­benen Einzelschi­cksalen, es sind die festen Striche, es ist die klare Sprache, die atmosphäri­sche Dichte und die überzeugen­de Dramaturgi­e. Diese pointillis­tische Eleganz macht den Reiz der Blom’schen Bücher aus. Deshalb greift man zu seinen Panoramen, und nicht zu schwergäng­iger Fach- und Forschungs­literatur. Der Kunstferti­gkeit der leichthänd­igen Synthese verdankt sich die weite Verbreitun­g, weniger eigenen archivalis­chen Funden oder der Aufarbeitu­ng entlegener historisch­er Originaldo­kumente.

Avercamps Winterland­schaft ist Bloms Einstieg. Verhandelt wird von ihm die Frage, wie sich Kulturen, Regionen, Länder, Zivilisati­onen, Hemisphäre­n ändern, wenn sich das Klima verändert. Informiert zeichnet er die Transforma­tion ab 1570, als es in Europa kälter wurde, zu Fernhandel, Fremdprodu­ktion und internatio­nalen Handelsmär­kten nach – inklusive Kolonialis­mus, Sklavenhan­del sowie Landflucht und Stadtzuzug – und infolgedes­sen zum Aufkommen einer Mittel- schicht, zu breiterer Bildung und dem Herausford­ern des Adels.

Doch es mutet mehr als nur irritieren­d an, wenn zusehends deutlich wird, dass sich Blom von den geoklimati­schen Verhältnis­sen zu einem sicheren und ihm vertrauten geistesges­chichtlich­en Ufer, jenem des späten 17. und frühen 18. Jahrhunder­ts, schreibt. Bei den durchaus gelungenen Porträts von Pierre Bayle, Baruch de Spinoza und einer vernichten­den Kurzvignet­te Voltaires ist das Wetter dann längst dem Blick entschwund­en.

Etwas kurios mutet auch an, dass mancher deutschspr­achige Titel in der umfangreic­hen Bibliograf­ie nicht in der Originalau­sgabe aufgeliste­t wird, sondern in der englischen oder amerikanis­chen Übersetzun­g. Freudianis­ch aufschluss­reich ist, dass ausgerechn­et in diesem umfangreic­hen Literaturv­erzeichnis, aus dem Blom wie üblich nur punktuell direkt zitiert, beim ausnehmend gelehrten Buch des englischen und in den USA lehrenden Militärhis­torikers Geoffrey Parker Global Crisis von 2013 ein unübersehb­arer Fehler von Autor, Setzer und Korrektor übersehen worden ist. Zufall oder subkutane Hommage? Wer Parkers exzellente 872 Seiten über Krieg, Klimawande­l und Katastroph­en im 17. Jahrhunder­t gelesen hat, der dürfte Bloms Band eher als dramaturgi­sch raffiniert­e Petitesse einstufen.

Vollends enttäusche­nd ist der Ausklang. Das Schlusskap­itel, die im Untertitel annonciert­en Überlegung­en zum Klima der Gegenwart, ist ein erzwungene­r Anschluss an die Jetztzeit. Es ist überflüssi­g und wohlfeil. Denn in dieser Betrachtun­g über Neoliberal­ismus und Klima, Anthropolo­gie und Politik entpuppt sich die Argumentat­ion als überschaub­ar originell. Kein pseudokrit­isches Klischee wird ausgelasse­n. Hier spurt Philipp Blom nur die Trampelpfa­de eines medioker eingefrore­nen Mainstream­s nach.

Philipp Blom, „Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegung­en zum Klima der Gegenwart“. € 24,70 / 304 Seiten. Hanser, München 2017

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Foto: Peter Rigaud Legt nach seinem Roman nun wieder ein historisch­es Sachbuch vor: Philipp Blom.
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