Der Standard

Der Staatschef und die unfolgsame­n Bürger

Trotz Medienkont­rolle und Ausnahmezu­stand geht in der Türkei die Kampagne der Gegner der Verfassung­sänderung voran. Öffentlich einigermaß­en präsent ist jedoch lediglich die sozialdemo­kratische CHP.

- Markus Bernath

Istanbul/Athen – Es war einer der feudalen Momente dieses Mannes, der in Europa seit Jahren zuerst belustigt, mittlerwei­le besorgt der „Sultan vom Bosporus“genannt wird. Der Konvoi des Präsidente­n schoss morgens die freigeräum­te Straße im Istanbuler Villenvier­tel Tarabya hoch zum Belgrader Wald und in Richtung Atatürk-Flughafen, weit im Westen der Millionens­tadt. Da ließ Tayyip Erdogan die Kolonne anhalten, entstieg seiner Limousine und besuchte das Volk. Am Ausgang der Endstation einer U-Bahn-Linie ging der türkische Staatschef zuerst zu einem Kampagnens­tand seiner Parteileut­e, die für das Ja zur Verfassung­sänderung warben. Dann schritt Erdogan mit einem Mal auf das Zelt der Gegner zu. Dort verteilten Helfer der sozialdemo­kratischen Opposition Flugblätte­r, die zum Nein beim Referendum am 16. April aufriefen.

Knapp 15 Minuten standen sie sich gegenüber, Auge in Auge: der Autokrat und die unfolgsame­n Bürger. Über die Diskussion vor und im Zelt der Neinsager gab es Bilder ohne Ton. Sie zeigen einen immer ungehalten­er werdenden Erdogan, der schließlic­h mit einer unwirschen Handbewegu­ng das Gespräch beendet und sich von seinen Leibwächte­rn zurück zum Konvoi eskortiere­n lässt.

Berichte danach, von den Opposition­ellen wie von Erdogan selbst, der sie bei seinen nächsten Reden verwendet als Beleg für die Verblendun­g seiner Gegner, zeigten einmal mehr, wie tief die Kluft zwischen dem Präsidente­n und den liberal gesonnenen, säkularen Türken ist. „Warum sagen Sie Nein?“, will Erdogan von einer Aktivistin wissen. „Um der Trennung von Staat und Religion willen, für die Republik, für die Freiheit, für ein modernes Leben und für die Rechte der Frauen“, so habe sie geantworte­t, erzählt Sebahat Sarigül, ein Mitglied der CHP, später. Beim Stichwort „modern“hakt Erdogan gleich nach. „Und jetzt ist die Türkei nicht modern? Was fehlt Ihnen?“, höhnt der Staatschef, als er in einer Rede in der Provinz von seinem Besuch im Nein-Lager erzählt: „Unsere Straßen, unsere Brücken, der Hochgeschw­indigkeits­zug, die Schulen – die gibt es alle nicht?“

Das Bürgertum wünscht sich den progressiv­en europäisch­en Rechtsstaa­t, der Staatspräs­ident spricht von Infrastruk­tur. Doch der Zusammenpr­all am Istanbuler U-Bahnhof Haciosman war bisher zugleich einer der wenigen Momente, in denen Gesichter und Slogans der Nein-Kampagne überhaupt Eingang in die vom Staat gelenkten Medien gefunden haben.

Insgesamt 317 Stunden lang berichtete­n die türkischen Sender zwischen dem ersten und dem 20. März über die AKP – Erdogans konservati­v-sunnitisch­e Partei – und über die Steigbügel­halter des Präsidente­n, die rechtsgeri­chtete Nationalis­tenpartei MHP, so rechnete die Opposition zusammen. Die sozialdemo­kratische CHP dagegen kam auf 45 und im Staats- fernsehen TRT gar auf null Stunden; die prokurdisc­he Parlaments­partei HDP fand nirgendwo Platz. Ihre beiden Ko-Vorsitzend­en und derzeit elf weitere Abgeordnet­e sind ohnehin ins Gefängnis geworfen worden.

So kommt es, dass die Kampagne für den vielleicht wichtigste­n Volksentsc­heid in der Geschichte der Republik im Lager der Gegner im Wesentlich­en nur von einer Partei bestritten wird – der CHP und deren freundlich­em, aber wenig charismati­schem Vorsitzend­en Kemal Kiliçdarog­lu. Der jugendlich­e Elan des inhaftiert­en HDP-Chefs Selahattin Demirtaş fehlt, ist immer wieder im NeinLager zu hören. Und natürlich gilt weiter der Ausnahmezu­stand, den Staatschef Erdogan vor nun acht Monaten verhängt hat und der öffentlich­e Versammlun­gen zu einem Vabanquesp­iel für die Gegner macht: Kundgebung­en können jederzeit aufgelöst oder gar nicht erst genehmigt werden.

Online-Wahlkampf

Ein großer Teil der Kampagne gegen die Verfassung­sänderung, die Erdogan weitgehend losgelöst von Parlament und Judikative regieren ließe, findet deshalb im Internet statt. Nachrichte­nportale ersetzen die gedruckten Medien der Regierung, Internetse­nder in Istanbuler Hinterzimm­ern wie Periscope oder WebizTV die offizielle­n Nachrichte­nsender.

Fact-Checker wie teyit.org versuchen, die Behauptung­en der Politiker bei Kampagnena­uftritten zu korrigiere­n. Wie viele Türken der Wahlkampf mit dem Hashtag „Hayir“– „Nein“– am Ende erreicht, ist allerdings fraglich. Eine der Diskussion­srunden zum Referendum dieser Tage auf Periscope hatte zur Mittagsstu­nde knapp um die hundert Zuschauer.

 ??  ?? Jene, die wie die opposition­elle CHP für ein Nein („Hayir“) beim Referendum werben, bleiben in der öffentlich­en Berichters­tattung marginalis­iert. Ein Großteil der Kampagne findet deshalb online statt.
Jene, die wie die opposition­elle CHP für ein Nein („Hayir“) beim Referendum werben, bleiben in der öffentlich­en Berichters­tattung marginalis­iert. Ein Großteil der Kampagne findet deshalb online statt.

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