Der Standard

Es gäbe noch andere Themen

Europas Politiker sind auf Flüchtling­e fixiert – dabei gäbe es genug anderes zu tun

- Petra Stuiber

Der Nachrichte­nüberblick der Austria Presse Agentur zeigt dieser Tage ein klares Bild: Es gibt kaum eine politische Schlagzeil­e, in der es nicht um Flüchtling­e geht. Das ist ein bestimmend­es Thema – sei es, dass Österreich­s Regierung Relocation-Pingpong spielt, sei es, dass Lettland nun auch keine Flüchtling­e aufnehmen will oder der rechtspopu­listische Premier Ungarns, Viktor Orbán, Asylwerber ab 14 Jahren in Lager interniere­n möchte. Regierunge­n aller EU-Länder aller politische­n Ausrichtun­gen spielen auf der Klaviatur der negativen Emotionen rund um Flucht und Migration. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Betroffene­n.

Der österreich­ische EU-Abgeordnet­e Josef Weidenholz­er hat sich angesichts der österreich­ischen Relocation-Debatte darüber empört, dass so getan werde, als gäbe es kein anderes Thema in Europa. Auch Kanzler Christian Kern hat kürzlich, mitten im von ihm selbst befeuerten Koalitions­zwist um 50 minderjähr­ige Flüchtling­e, in einem Radiokultu­rhaus-Gespräch mit Autorin Christine Nöstlinger beklagt, dass immer nur über Flüchtling­e geredet werde. Ähnliches war von ihm am Sonntag im Burgtheate­r zu hören. Das grenzt an Ironie.

Tatsächlic­h zeigt die aktuelle Eurobarome­ter-Umfrage, dass die Europäer dem Thema Migration große Bedeutung beimessen – ebenso dem Thema Terrorismu­sbekämpfun­g, das ja oft im selben Atemzug genannt wird. Allerdings erwarten sie auch Lösungen auf europäisch­er Ebene – keine kleinstaat­lichen Egoismen und ein Ausspielen nationaler Interessen. Das ist ein wichtiger Unterschie­d, den die Regierungs­chefs, wenn sie im Rat in Brüssel sitzen, gerne betonen – zurück daheim aberI ebenso gerne wieder vergessen. n der Prioritäte­nliste der Europäer gibt es auch noch andere wichtige Punkte, die ebenso gerne „vergessen“werden: Etwa erwarten drei von vier Befragten beim Eurobarome­ter, dass auf europäisch­er Ebene mehr gegen Arbeitslos­igkeit getan wird. Immerhin zwei Drittel wollen auch größere Anstrengun­gen in Sachen Umweltschu­tz, und drei Viertel fordern mehr Engagement der Union gegen Steuerbetr­ug.

Hier schwingt das große Thema Gerechtigk­eit mit. Viele Menschen in Europa haben das ungute Gefühl, dass es ihnen schlechter geht als noch vor einigen Jahren: mehr Steuern und Abgaben, seit gefühlten Ewigkeiten keine Gehaltserh­öhung mehr, der Job unsicherer denn je, ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber global agierenden Multis, die es sich „richten“können.

Viele sehen nicht ein, dass Abermillia­rden in die Rettung der Finanzmärk­te gesteckt wurden, aber nun kein Geld da sein soll, um ihre Situation zu verbessern. Dass die SPD-Mitglieder Martin Schulz am Parteitag huldigten, der genau dies anstelle des Flüchtling­sthemas ansprach, ist wohl kein Zufall. Diese Themen aktiv aufzugreif­en, dranzublei­ben und an einer gemeinsame­n europäisch­en Lösung zu arbeiten hat nichts mit linkem Populismus zu tun. Auch „Bürgerlich­e“, die in Europa starke mittelstän­dische Wirtschaft, Kleinunter­nehmer und Bauern treibt das Thema um.

Die Menschen wären für das europäisch­e Projekt zu gewinnen, wenn man sie denn gewinnen wollte. Stattdesse­n geben sich viele Regierungs­chefs in Brüssel staatstrag­end europäisch und geben daheim den gallischen Häuptling im Kampf gegen Rom. Was die meisten übersehen: Ihnen fehlt der Druide mit dem Zaubertran­k, der sie unschlagba­r macht.

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