Der Revolutionär des Erinnerns
Aus Angst vor Langeweile wandte sich Susumu Tonegawa nach seinem Medizinnobelpreis 1987 den Neurowissenschaften zu. Seitdem hat er mit seinen Teams in den USA unser Wissen über das Gedächtnis radikal erweitert – so auch in seiner jüngsten Studie.
Boston/Wien – Ende 40 hatte Susumu Tonegawa alles erreicht, was man als Forscher erreichen kann: Er hatte als Immunologe die Vielfalt der Antikörper erklärt, wurde Professor am MIT, einer der besten Hochschulen der Welt, und erhielt 1987 auch noch den Medizinnobelpreis.
„Aus Angst vor Langeweile“habe er nach dem Nobelpreis beschlossen, etwas ganz anderes zu machen, wie er kürzlich im deutschen Nachrichtenmagazin Spiegel erklärte. Tonegawa wandte sich der Hirnforschung zu, konkret: der Entstehung von Erinnerungen. In diesem Gebiet sind ihm und seinen Kollegen vor allem in den letzten fünf Jahren höchst spektakuläre Durchbrüche gelungen. Und in der aktuellen Ausgabe von Science berichtet er über Versuche, die bisherige Annahmen über die Bildung des Langzeitgedächtnisses erschüttern.
Die fast schon beängstigenden Fortschritte, die der heute 77-Jährige und seine Kollegen am MIT und am Riken-Institut für Hirnforschung in Tokio machten, verdanken sich Weiterentwicklungen der sogenannten Optogenetik. Mit dieser Methode lassen sich durch feinste Lichtimpulse im Gehirn gentechnisch veränderter Versuchstiere einzelne Neuronen ma- nipulieren, und damit kann man auch in die Erinnerung eingreifen.
Tonegawa und seinen Kollegen gelang es auf diese Weise unter anderem, den Mäusen falsche Erinnerungen mittels Lichtimpuls einzupflanzen: Die Tiere erhielten in einem Käfig einen Elektroschock, den sie sich merkten. Zugleich wurde ihnen mittels Lichtimpulsen die Erinnerung an einen anderen Käfig ins Gedächtnis gepflanzt. Das Resultat: Die Mäuse fürchteten sich auch im echten anderen Käfig davor, Elektroschocks zu erhalten.
Vor rund einem Jahr ließen Tonegawa und seine Kollegen mit einem Bericht in Science über gleichsam gegenteilige Manipulationen aufhorchen: Es gelang ihnen bei Mäusen, die an Alzheimer erkrankt waren, Erinnerungen wieder zu aktivieren, die nicht mehr hatten abgerufen werden können.
Der jüngste Streich von Tonegawa und seinen Teams nimmt sich dagegen nicht so spektakulär aus. Die neue Studie erschüttert aber immerhin die seit den 1950er-Jahren geltenden Vorstellungen über das Langzeitgedächtnis. Bisher dachte man, dass sich zunächst im Hippocampus Erinnerungen in Form von sogenannten EngrammZellen bilden würden, die erst danach allmählich im präfrontalen Kortex, einer Großhirnregion, dauerhaft gespeichert würden.
Die neuen Versuche an Mäusen zeigten, dass sich parallel zu den Engramm-Zellen im Hippocampus von Beginn an auch solche im Großhirn bilden, was „überraschend war“, so Tonegawa. In den ersten Tagen bleiben diese Zellen im Kortex indes inaktiv. Und wie die Forscher mittels optogenetischer Stimulation herausfanden, reiften die kortikalen Zellen nicht, wenn die Verbindungen zwischen dem Hippocampus und dem Großhirn unterbrochen waren.
Für Tonegawa stellen die neuen Erkenntnisse nicht nur einen Fortschritt gegenüber dem bisherigen Wissen dar. Sie könnten beispielsweise auch Alzheimer-Patienten helfen. Denn wie man aus den früheren Tierversuchen weiß, speichern selbst Alzheimer-Mäuse Erinnerungen – sie können nur nicht mehr darauf zugreifen.