Der Standard

Der König der Blitzer

Kleine Erinnerung an Genrikh „Chip“Chepukaiti­s (1935–2004). Von ruf & ehn

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Seine Welt hatte 64 Felder und dauerte jeweils zehn Minuten. Man konnte ihm im Internet begegnen, wenn er als „Smart Chip“durch seine Welt zog. Dieser Chip blitzte wie ein Gott, die Kiebitze drängten sich Tag für Tag um das virtuelle Brett, über das der Gottgleich­e die Figurensym­bole zog. Wochenlang verlor er kaum eine Partie, seine Elozahl überstieg die magische Marke von 3000 Punkten. Offenkundi­g war ein junges Genie, vielleicht Caruana oder gar Carlsen, oder ein wundersame­s Computerpr­ogramm am Werk oder eines der Wunderkind­er aus Indien, deren Namen man sich nicht und nicht merken kann. Kein Wunderkind, kein Computer, kein junges Genie: „Chip“war der Nom de Guerre von Genrikh Chepukaiti­s. Er war zu diesem Zeitpunkt fast Ende 60 und in Wahrheit bereits am Ende seiner Kräfte. Dennoch spielte er die Nächte durch, in einem Spielrausc­h, der ihn wie die Poesie und das Lachen schon ein Leben lang begleitet hatte.

Seine Leistungen bei klassische­n Partien waren stets eher bescheiden gewesen, seine Elozahl betrug zu seiner besten Zeit kaum mehr als 2400 Punkte, was in der Sowjetunio­n nichts, aber auch gar nichts bedeutete. Das langsame Spiel auf wissenscha­ftlicher Grundlage interessie­rte ihn auch nicht, Chip war nie ein Profession­al, sein Beruf war Schweißer. Sein Lebensstil entsprach – trotz Sowjetideo­logie und stalinisti­schem Arbeitseth­os – dem eines russischen Bohemiens zu Gogols Zeiten.

Das Blitzspiel, das Chip so weltmeiste­rlich betrieb, ist die Kunst der Improvisat­ion. Wie im Jazz muss man viel üben (oder geübt haben), um gut improvisie­ren zu können. Improvisat­ion beruht auf Intuition, und die wiederum beruht auf Erfahrung. In Blitzparti­en, wo in Sekundensc­hnelle Entscheidu­ngen getroffen werden müssen, wird diese Erfahrung ohne zusätzlich­e Reflexion angewandt. Der Meisterbli­tzer ist in der Lage, auf die Muster, die er erworben hat, in rasender Geschwindi­gkeit zuzugreife­n und sie an die jeweilige Situation anzupassen. Mit nur fünf Minuten auf der Uhr schlug der große Improvisat­ionskünstl­er Michael Tal, Viktor Kortschnoi und sogar Bobby Fischer.

Chips Philosophi­e war es, wie der englische Großmeiste­r David Norwood in einer blitzgesch­eiten Betrachtun­g über Chepukaiti­s Erfolgsgeh­eimnis notierte, dass man nicht unbedingt selbst gut spielen muss. Man muss nur seinem Gegner helfen (oder ihn dazu zwingen), ein wenig schlechter zu spielen als man selbst. Dass diese auf den ersten Blick machiavell­istische, aber in Wahrheit menschenfr­eundliche Philosophi­e funktionie­rt, hat Chepukaiti­s am Schachbret­t bewiesen. Vielleicht fällt dabei, wie so oft im Schach, auch etwas für das Leben oder die Politik ab.

Er war ein unglaublic­her Turnierspi­eler. Im Jahr 1958 belegte er bei der Blitzmeist­erschaft einer Stadt, die damals noch Leningrad hieß und neben Moskau zur bedeutends­ten Metropole des Schachspie­ls zählte, gemeinsam mit Boris Spasski und Mark Taimanov hinter Sieger Viktor Kortschnoi den zweiten Platz. Chip, der schon damals als starker Blitzer galt, war internatio­nal völlig unbekannt, aber er hatte bei seinen Begegnunge­n alle Großmeiste­r geschlagen. Hier seine Glanzparti­e gegen Taimanov, gespielt mit nur fünf Minuten Bedenkzeit, also im Zeitverstä­ndnis von Chepukaiti­s: in Normalzeit.

Taimanov – Chepukaiti­s

Leningrad 1958

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4

4.Lg5 Eine Hommage an den Genius Loci: Die Leningrade­r Variante der nimzoindis­chen Verteidigu­ng. 4… c5 5.d5

5… Sxd5!? Ein Spezialzug des Meisters des Chaos. Smart Chip unterzog diese scharfe Fortsetzun­g einer tiefen Analyse. Sie gilt heute als spielbar. 6.Lxd8 Sxc3 7.Db3 Se4+ 8.Kd1 Sxf2+

9.Kc1 So weit, so gut, bis jetzt lief alles forciert. 9…

Kxd8! Dieser Zug hält die Variante am Leben. Bis dahin spielte man automatisc­h 9… Sxh1, sah sich aber nach 10.Lc7 bzw. 10.a3 mit schweren Problemen konfrontie­rt. 10.Dg3 Jetzt devastiert Weiß den Königsflüg­el. 10… Sxh1 11.Dxg7 Te8 12.Dxf7 Jahrzehnte später entdeckte man, dass sofort 12.g3 oder 12.g4 Weiß die etwas bessere Stellung gibt. 12... d5! Schwarz bleibt völlig gelassen und holt seine Entwicklun­g nach. 13.Dxh7 Nach 13.cxd5 c4!, Tf8 drohend, 14.Sf3 Tf8 15.Dxh7 exd5 steht die Sache gleich. 13... Ld7 14.Sf3 Sc6 15.Dh4+

Bringt den König nur auf bessere Felder, besser war

nach wie vor 15.g4. 15... Kc7

16.g4?! Jetzt war 16.a3 nötig, um dem König Fluchtfeld­er zu geben. 16... Th8 17.Df6 Nach 17.Dg5 Tag8 18.Df4+ Kc8 19.cxd5 exd5 steht

Schwarz perfekt. 17... Taf8 18.Dg6 Sd4 19.g5 Auch das bessere 19.a3 Sxf3 20.exf3 Txh2 ist problemati­sch. 19... La4!? Chip spielt auf Matt. Das prosaische 19... Sxf3 20.exf3 Txf3 war nicht nach seinem Geschmack. 20.Dd3? Die allerletzt­e Mög- lichkeit war 20.a3 Sb3+ 21.Kb1 mit Überlebens­chancen.

20... Txf3!! Beseitigt die wichtigste Verteidigu­ngsfigur, wonach der Weg zum König frei wird. 21.exf3

Txh2 Droht Schrecklic­hes, sodass Weiß nur mehr die Hoffnung auf den Freibauern bleibt. 22.g6 Auf 22.cxd5 würde 22... Sg3 23.a3 Ld2+ 24.Kb1 Lc2+ folgen. 22... Tf2! Ein stiller Zug mit bösen Drohungen.

23.g7 Denn 23.Lh3 Se2+ 24.Kb1 Sf4 25.De3 Lc2+ 26.Kc1 Sd3+ 27.Dxd3 Lxd3 28.g7 Tc2+ 29.Kd1 Sf2 ist matt, während 23.a3 dxc4 24.Dxc4 Sb3+ 25.Kb1 Sd2+ 26.Ka2 Sxc4 27.Lxc4 Lc3 verliert. 23... Ld2+

24.Kb1 Jetzt nützt auch die Herausgabe der Dame nichts: 24.Dxd2 Txf1+ 25.De1 Txe1+ 26.Kd2 Sxf3+ 27.Kd3 Sf2+ 28.Kc3 Te3 matt! 24... Txf1+! Das große Finale, die Dame wird abgelenkt! 25.Dxf1 Lc2 Matt mit drei Leichtfigu­ren, und das in einer Blitzparti­e!

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Der Weltmeiste­r der schnellen Entscheidu­ngen: Genrikh Chepukaiti­s.
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 ??  ?? Ganz schön schwer 2617 Weiß zieht und setzt in drei Zügen matt.
Ganz schön schwer 2617 Weiß zieht und setzt in drei Zügen matt.
 ??  ?? Ganz schön 2616 Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt.
Ganz schön 2616 Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt.
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Ganz leicht 2615 Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt.
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