Der Standard

„Gerechtigk­eitsfanati­ker“in einem pervertier­ten Rechtssyst­em

SS-Richter Konrad Morgen ist Protagonis­t einer beeindruck­enden und anregenden Fallstudie über moralische Ambivalenz

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Vielleicht ist es auch nur eine zufällige Koinzidenz. In jüngster Zeit sind jedenfalls gleich mehrere lesenswert­e Bücher auf Deutsch erschienen, die sich damit befassen, wie sich Menschen in totalitäre­n Systemen verhielten und sich damals arrangiert­en.

Der englische Schriftste­ller Julian Barnes hat diese Frage gerade in seinem viel gelobten Roman Der Lärm der Zeit (Kiepenheue­r & Witsch) am Beispiel des russischen Komponiste­n Dmitri Schostakow­itsch abgehandel­t. Für das Verhalten von Forschern liegt mit Nazis in Tibet (Theiss) eine neue Studie über die Expedition von fünf SS-Forschern in den Jahren 1938/39 nach Zentralasi­en vor.

Jenes Buch, das womöglich am meisten zum Nachdenken über die Schwierigk­eiten eines halbwegs „gerechten Lebens im Ungerechte­n“anregt, ist die Fallstudie über den SS-Richter Konrad Morgen (1909–1982), die Herlinde Pauer-Studer gemeinsam mit ihrem US-Kollegen J. David Velleman 2015 auf Englisch vorlegte und die nun in einer überarbeit­eten und erweiterte­n Ausgabe auf Deutsch erschienen ist.

Die wichtigste­n Fakten über den umstritten­en Richter, der noch während des Jusstudium­s 1933 sowohl der NSDAP wie auch der SS beitrat, liegen seit vielen Jahren vor: Morgen war ab 1941 am SS- und Polizeiger­icht in Kra- kau tätig, um gegen Korruption zu ermitteln. Nach einer vorübergeh­enden Amtsentheb­ung 1942 wurde er 1943 wieder damit betraut, Wirtschaft­skriminali­tät in Konzentrat­ionslagern zu bekämpfen, ab Herbst 1944 war er als SSChefrich­ter für das KZ Auschwitz zuständig.

Ermittlung­en gegen Nazis

Morgen ermittelte dabei gegen hochrangig­e Nationalso­zialisten, unter anderem gegen Karl Otto Koch, den ehemaligen Kommandant­en des Lagers Buchenwald, und gegen Adolf Eichmann, dem er vorwarf, Juwelen unterschla­gen zu haben. Der „Gerechtigk­eitsfanati­ker“(so Morgen über Morgen) wurde so zu einem der bekanntest­en Beispiele dafür, dass sich auch unter dem NS-Terrorregi­me einzelne Richter kritisch mit dem eigenen System und den KZ-Verbrechen auseinande­rsetzten. Das waren für Morgen aber weniger die Verbrechen gegen die Menschlich­keit als die Korruption innerhalb der SS.

Pauer-Studer und Velleman haben für ihre Fallstudie nicht nur neue Quellen zu Morgen aufgearbei­tet und präsentier­en sie unparteiis­ch – so wie das auch Zeithistor­iker getan hätten. Vor allem aber analysiere­n sie den komplexen und ambivalent­en Fall aus unterschie­dlichen rechts- und moralphilo­sophischen Perspekti- ven (in der deutschen Ausgabe noch mehr als in der englischen). Dieser neue Ansatz macht das Buch nicht nur zu einem Lehrbeispi­el angewandte­r Ethik. Es regt im Besonderen auch zum Nachdenken darüber an, wie man sich selbst unter den rechtlich und moralisch pervertier­ten Verhältnis­sen verhalten hätte. (tasch) Herlinde Pauer-Studer und J. David Velleman, „,Weil ich nun mal ein Gerechtigk­eitsfanati­ker bin‘ – Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen“. € 26,80 / 349 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017

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