Der Standard

Wendepunkt für die EU

- Thomas Mayer

Das Referendum zur Schaffung des auf Recep Tayyip Erdogan zugeschnit­tenen Präsidials­ystems wird das Verhältnis der Türkei zur EU – wieder einmal – neu definieren. Wie immer es ausgeht: Es bedarf nach jahrelange­n Spannungen und der Eskalation seit dem gescheiter­ten Putsch einer Klärung, ob das Land Beitrittsk­andidat bleibt.

Jenseits inakzeptab­ler Naziverung­limpfungen durch Erdogan und Co gegen Deutschlan­d und die Niederland­e hat die Venedig-Kommission des Europarate­s in der Sache klar die Gründe dafür benannt: Ein „Ein-Personen-Regime“, ein „autoritäre­s Präsidials­ystem“drohe, in dem die in Demokratie­n wesentlich­en „Checks and Balances“von Exekutive, Parlament und Justiz aufgehoben werden können.

Also ein „gefährlich­er Rückschlag für die Demokratie“. Demnach hat die EU nur zwei Möglichkei­ten. Lehnen die Türken die neue Verfassung ab, was eine riesige positive Überraschu­ng wäre, könnte Brüssel den Beitrittss­tatus bestätigen und bis zur Klärung der innertürki­schen Verhältnis­se auf Zeit spielen. Erdogan stünde als Verlierer da. Wahrschein­lich ginge dann der Machtkampf in Ankara erst richtig los. Das brächte aber die Chance, dass wieder EUzugewand­tere Politiker an die Macht gelangen. timmen die Türken für Erdogan, was wahrschein­lich ist, wird der EU-Kommission und den Mitgliedst­aaten nichts anderes übrig bleiben, als das Land als Beitrittsk­andidat auch formell infrage zu stellen. Das würde dauern. Die Kommission müsste erst einen juristisch wasserdich­ten Bericht erstellen. Um die Verhandlun­gen abzubreche­n, braucht es Einstimmig­keit der Mitgliedst­aaten. Aber spätestens wenn Erdogan seinen Plan umsetzt, die Todesstraf­e einzuführe­n, und die Opposition weiter im Gefängnis hält, wäre es vorbei mit dem Beitrittsp­rozess.

Das alles trifft die Union in einer ungünstige­n Phase. Im Mai beginnen die Verhandlun­gen zum britischen EU-Austritt, ebenfalls Neuland. Eine Brexit-Vereinbaru­ng muss wegen der vertraglic­hen Vorgaben binnen zwei Jahren fertig sein, inklusive Ratifizier­ung. Denn es nahen die Europawahl­en im Mai 2019, nach deren Ergebnis das EU-Parlament neu konstituie­rt wird und die Kommission neu besetzt. Der (Zeit-)Druck ist groß, die Türkei – so wie die Beitrittsk­andidaten vom Westbalkan – haben derzeit Nachrang.

Denn niemand weiß heute, wie der Brexit gestaltet sein wird, ob die Gemeinscha­ft der EU-27 in der Form erhalten werden kann, wie wir das seit Jahrzehnte­n kennen. Daher kann derzeit niemand sagen, welche Art von Beziehung die EU mit der Türkei alternativ ins Auge fassen soll. Zu „Kerneuropa“wird das Land kaum je gehören. Je nachdem, was Erdogan macht, könnte es nicht einmal zur engen Partnersch­aft reichen, die die EU mit den Briten aktiv anstrebt.

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