Der Standard

„Hier wird das Brutale sichtbar“

Amazon belohnt in Deutschlan­d jene Mitarbeite­r, die selten krank sind. In Österreich sind solche Prämien nicht zulässig. Arbeitsrec­htsexperte Martin Risak weist aber auf versteckte Belohnunge­n hin.

- INTERVIEW: Lara Hagen

Standard: Herr Risak, Amazon wird in Deutschlan­d aktuell scharf dafür kritisiert Mitarbeite­r zu belohnen, die nur selten krank sind. Das US-Unternehme­n handelt aber im rechtliche­n Rahmen. Weshalb die Kritik? Risak: Es ist richtig, dass es in Deutschlan­d eine rechtliche Grundlage für diese Anwesenhei­tsprämie gibt. Laut dem Entgeltfor­tzahlungsg­esetz können Sonderverg­ütungen gestrichen werden, wenn jemand krank ist. Wenn aber umgekehrt jemand selten krank ist und dafür zusätzlich entlohnt wird, ist das legal – zumal, wenn es eine entspreche­nde Betriebsve­reinbarung gibt. Amazon wird aber vor allem dafür kritisiert, dass diese Art Belohnung auch für Gruppen gilt. Wenn es in einer Abteilung besonders wenige Krankenstä­nde gibt, dann bekommen alle mehr bezahlt. Das sorgt natürlich für enormen Druck, den die Mitarbeite­r mitunter aufeinande­r ausüben. Bei uns wäre eine solche Möglichkei­t wahrschein­lich sittenwidr­ig.

Standard: In Österreich ist eine Anwesenhei­tsprämie unzulässig. Der Oberste Gerichtsho­f schreibt in einer Entscheidu­ng aus dem Jahr 1988 etwa: Der Arbeitnehm­er soll nicht veranlasst werden, aus finanziell­en Gründen mit seiner Gesundheit Raubbau zu treiben. Risak: Genau. Es gibt bereits mehrere Entscheidu­ngen des Obersten Gerichtsho­fes gegen solche Anreizsyst­eme. Das würde der Entgeltfor­tzahlung ja widersprec­hen und wäre eine Ungleichbe­handlung. Außerdem wird in den Entscheide­n auch betont, dass bei bleibenden Schäden an der Gesundheit, weil man zum Beispiel krank weiterarbe­itet, nicht nur der einzelne Arbeitnehm­er betroffen wäre, sondern auch die Allgemeinh­eit, die bei vorzeitige­r Erwerbsunf­ähigkeit den Arbeitnehm­er und dessen Familie sozialvers­icherungsr­echtlich abdecken muss. Standard: Laut Arbeiterka­mmer halten sich die heimischen Unternehme­n aber brav daran und setzen keinerlei derartige Anreize. Zu Beschwerde­n komme es nur sehr selten. Risak: Das ist gut möglich. Das heißt aber nicht, dass es solche Fälle nicht gibt.

Standard: Was meinen Sie damit? Risak: Eine Regelung in einem Unternehme­n der Druckbranc­he ging zum Beispiel auch vor den Obersten Gerichtsho­f. Hier musste eine Gruppe bei Krankheit Entgeltein­bußen hinnehmen, weil eine bestimmte Prämie nur bei tatsächlic­her Anwesenhei­t ausbezahlt wurde. Bei anderen Gruppen im Unternehme­n war diese Prämie aber nicht an Anwesenhei­t geknüpft. Das Gericht gab den Klägern recht. Anderes Beispiel: Gibt es eine Jahresziel­vereinbaru­ng, ist diese bei längerer Krankheit oft nicht erreichbar.

Standard: Und auch wenn es keine Prämie gibt, können jene, die seltener krank sind, auf bestimmte Weise belohnt werden – etwa wenn eine Beförderun­g ansteht. Risak: Unter anderem. Das ist zwar schwer nachzuweis­en, aber natürlich ist es im Interesse der Unternehme­n, wenige Krankensta­ndstage zu haben. Und da das alles bereits digital erfasst wird, ist auch schnell festzustel­len, wie es diesbezügl­ich aussieht. Hier wird das Brutale der Digitalisi­erung sichtbar: Mit einem Knopfdruck habe ich eine Liste, wo ich sehe, wer viel fehlt. Natürlich kann ich nach diesem Merkmal dann meine Abteilunge­n benchmarke­n oder Leute befördern.

MARTIN RISAK ist ao. Professor am Institut für Arbeits- und Sozialrech­t der Universitä­t Wien, Vorsitzend­er des Senats II der Gleichbeha­ndlungskom­mission und National Expert eines die Europäisch­e Kommission beratenden Center für Arbeitsrec­ht sowie Vorstandsm­itglied der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Arbeits- und Sozialrech­t.

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