OSZE hegt Zweifel an Rechtmäßigkeit von Türkei-Votum
Wahlbeobachter: Auszählungsmodus illegal Opposition fordert Annullierung der Wahl
Ankara – Nach den türkischen Oppositionsparteien haben auch internationale Wahlbeobachter scharfe Kritik am Ablauf des Verfassungsreferendums geübt, das am Sonntag zu einem knappen Ja geführt hatte. Die Türkei habe gegen internationale Standards verstoßen, so die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Etwa widerspreche die Einbeziehung ungestempelter Wahlzettel dem Gesetz. Erdogan kanzelte die OSZE ab: Er erkenne die Kritik nicht an, die OSZE solle ihren Platz kennen.
Die türkischen Oppositionsparteien CHP und HDP, die für ein Nein zum Präsidialsystem geworben hatten, forderten am Montag eine Annullierung. Es habe zahlreiche Unregelmäßigkeiten gegeben. Der knappe Ausgang von 51,4 zu 48,6 Prozent lasse keinen Schluss auf den Wählerwillen zu.
In Österreich gab es klarere Verhältnisse: 73,2 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten laut inoffiziellen Zahlen der Staatsagentur Anadolu für das Ja, die Beteiligung lag bei 48,6 Prozent.
Kritik kam unter anderem aus Österreich: Kanzler Christian Kern (SPÖ) sagte, die Beitrittsperspektive der Türkei sei nun „de facto begraben“. Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) forderte „ein Ende des Taktierens“. (red)
Sie haben wieder die alten Schlachtgesänge aus dem Gezi-Park angestimmt. „Das ist nur ein Anfang – der Kampf geht weiter“, schallt es am späten Abend über die Straßen in Kadiköy und in Beşiktaş, den zwei größten Hochburgen der Opposition in der Millionenstadt Istanbul. Einige Tausend gehen demonstrieren, enttäuscht über die Niederlage und doch ermuntert von der Herausforderung des Staates wie damals vor vier Jahren beim Protest um den Istanbuler Gezi-Park.
Der Staatschef aber hat den knappen Sieg beim Referendum schon abgehakt. Er hat sein Präsidialregime bekommen, wenn auch nur mit 51,4 Prozent. Tayyip Erdogan benützt ein nicht recht übersetzbares türkisches Sprichwort, als er am Abend nach der Abstimmung seine kurze Erklärung vor der Presse abgibt.
In dem Sprichwort geht es um ein Pferd, das längst vorbeigezogen ist, und um den Istanbuler Stadtteil Üsküdar. Was vorbei ist, ist vorbei, soll das offenbar heißen. Die andere Hälfte der Türken, die gegen die Verfassungsänderungen stimmte, möge sich mit der Niederlage abfinden; sie hat ihre Chance gehabt.
Schlecht gewählt
Aber das Sprichwort ist schlecht gewählt. Erdogan war vor Jahren einmal bei einem öffentlichen Auftritt von einem bockigen Pferd abgeworfen worden. Und sein eigener Stadtteil Üsküdar, wo Erdogans privates Wohnhaus liegt, hat ihn im Stich gelassen. Im konservativen Üsküdar lag das Nein zu den Verfassungsänderungen am Ende deutlich vorn wie überall in Istanbul.
Es ist die erste Niederlage für Erdogan und seine konservativ-islamische Partei AKP in der Bosporus-Metropole. Ankara und Izmir sagten ebenfalls Nein zum Präsidialregime. Die anatolische Provinz und die stockkonservative Schwarzmeerregion retteten am Ende den Staatspräsidenten.
Die Opposition will sich zudem, anders als Erdogan empfiehlt, keinesfalls mit der Niederlage abfin- den. Bülent Tezcan, einer der Vizevorsitzenden der sozialdemokratischen CHP, forderte am Montag nichts weniger als die Annullierung des Referendums. Berichte über Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung gab es den ganzen Sonntag über: von jenem Ortsvorsteher in einem Dorf im Südosten, der mit fünf Umschlägen aus der Wahlkabine kam; dem Wahllokalleiter in Urfa, der gefilmt wurde, als er Stimmzettel mit „Ja“bestempelte; oder aus jenem anderen Wahllokal in der Provinz Ankara, in der Stimmzettel nachträglich ein Siegel erhielten. Letzteres ist der größte Vorwurf der Opposition. Die oberste Wahlbehörde hatte noch am Tag der Abstimmung die Regeln geändert und auch Stimmzettel und Umschläge für gültig erklärt, die kein offizielles Siegel trugen. Ein Verstoß gegen das Wahlgesetz, argumentiert die Opposition.
Kritik der Wahlbeobachter
Die Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) teilen diese Ansicht. Die Anweisungen der Wahlbehörde untergruben die Sicherheit der Abstim- mung und widersprachen dem Gesetz, hieß es in dem Bericht der internationalen Beobachter, der am Montag in Ankara vorgelegt wurde. Der Unterschied zwischen Ja- und Neinstimmen betrug offiziell 1,2 Millionen Stimmen.
Tayyip Erdogan ficht das nicht an. Für Montagabend bereits hat er den nationalen Sicherheitsrat und anschließend das Regierungskabinett in den Präsidentenpalast einbestellt. Eine neuerliche Verlängerung des Ausnahmezustands steht an. Die Parlamentsmehrheit soll sie morgen, Dienstag, abnicken. Erdogan wird wei- terhin mit Notstandsdekreten regieren können. Noch ist nicht klar, wie genau der Übergang von der parlamentarischen Demokratie zum neuen Präsidialregime ablaufen soll.
Sicher ist, dass Erdogan zunächst seine Mitgliedschaft in der AKP wieder aktiviert und dann bei einem außerordentlichen Parteitag wieder die Führung übernimmt. Die jetzige Verfassung legt fest, dass der Staatspräsident sein Amt ohne Bindung zu einer politischen Partei ausführen soll. Es ist einer jener Punkte, die mit dem Referendum geändert wurden. Alle insgesamt 18 Verfassungsänderungen treten erst mit der nächsten gemeinsamen Neuwahl von Parlament und Präsident in Kraft. Die ist für November 2019 vorgesehen. Jeder aber erwartet vorgezogene Wahlen noch im Herbst dieses Jahres.
Aus Kommentaren internationaler Tageszeitungen zum Ausgang des Referendums in der Türkei:
(Berlin) Auf den ersten Blick ist es ein Ja für Erdogan selbst. Ganz persönlich. Denn nach einer Umfrage des Instituts Gezici Research wussten 80 Prozent der AKP-Anhänger nicht, worum es bei der geforderten Verfassungsänderung überhaupt geht. Sie stimmten dafür, weil es der Staatspräsident von ihnen forderte. Jener Mann, der die Türkei seit 2003 zeitweise entscheidend voranbrachte, der ihr Wirtschaftswachstum bescherte, eine modernere Infrastruktur und eine bessere Gesundheitsversorgung auch für die Ärmsten. Es ist sein Sieg. Auf den ersten Blick.
Auf den zweiten Blick ist dieser Sieg eine Niederlage. Fast ein Jahr lang drängte Erdogan sein Volk zum Ja, drohte, warnte, mahnte, entließ Hunderttausende Beamte, Lehrer, Richter, verhaftete mehr als hundert Journalisten, ließ fast alle kritischen Medien schließen oder zugrunde gehen, bis sie in regierungstreue Hände wanderten.
Er sorgte dafür, dass Befürworter eines Nein in der Öffentlichkeit so gut wie nicht zu Wort kamen; entvölkerte die Kurdengebiete militärisch und zwang zahllose seiner überzeugtesten Gegner ins Ausland. Er schickte ganze Fraktionen der Opposition ins Gefängnis; diffamierte Gegner seiner Verfassungsänderung durchgängig als Terroristen; zettelte diplomatische Krisen an, damit sich die Türken weltweit bedroht fühlen sollten. Und das Ergebnis: ein nur hauchdünner Vorsprung.
Wie hätte das Ergebnis ausgesehen, wenn es ein fairer Wahlkampf ohne Ausnahmezustand gewesen wäre? Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte Erdogan dramatisch verloren.
Kein Parlament der Welt könnte eine Verfassungsänderung auf eine derart schwache Mehrheit gründen. Selbst wenn Erdogan die Türken mit aller Gewalt zu einem Liebesbeweis nötigt – der allseits verehrte Herrscher, dem das Volk in allem freie Hand geben will, ist Erdogan nicht. Und er wird es nie werden. Das ist jetzt dokumentiert. Ganz gleich, was zukünftig in der Verfassung steht.
(Frankfurt) Um den Inhalt der Verfassungsänderungen ging es in der türkischen Debatte fast nie. Niemand könne die Türkei in die Knie zwingen, sagte Erdogan bei seinen Wahlveranstaltungen in vielerlei Variationen und stilisierte das Referendum zu einer „Schlacht des Kreuzes gegen den Halbmond“. Was das mit der Substanz der Verfassungsänderungen zu tun hatte, blieb dabei bewusst offen. Als es am Ende offenbar knapp zu werden drohte, schien allerdings selbst der routinierte Demagoge Erdogan nervös zu werden. Nachdem er sich zwischenzeitlich nicht mehr dazu geäußert hatte, versprach er plötzlich wieder eine Einführung der Todesstrafe, die er, wäre sie ihm wirklich ein Anliegen gewesen, ohne Weiteres in den Katalog der 18 Verfassungsänderungen hätte aufnehmen können, über die abgestimmt wurde.
Mit dem Versprechen der Todesstrafe wollte er die Nationalisten ködern, mit dem feierlichen Empfang für den irakischen Kurdenführer Massud Barzani in Ankara die konservativen türkischen Kurden. Zudem versprach er eine Konzentration auf Wirtschaftspolitik nach dem Referendum, um die Eliten in den Städten anzusprechen, die sich zu Recht über die Konjunktur Sorgen machen. Wären Schweine im Islam nicht verpönt, ließe sich sagen: Erdogan trieb eine eierlegende Wollmilchsau durch den Wahlkampf.
Und die Opposition? Dass sie kaum Zugang zu den Medien hatte, ist nichts Neues mehr in der Türkei Erdogans. Doch selbst wer nur das Für und Wider der Verfassungsänderungen sachlich diskutieren wollte, hatte einen schweren Stand. Und wer vielsagend schwieg, wie etwa der AKP-Mitgründer und frühere Staatspräsident Abdullah Gül oder der einstige Regierungschef Ahmet Davutoglu, wurde in den Hetzmedien des Regimes – man darf sie getrost so nennen – des Verrats bezichtigt. Erdogans innerparteiliche Gegner sind, auch das hat dieses Referendum bestätigt, zersplittert und nahezu einflusslos. Gül, Davutoglu oder der proeuropäische ehemalige Außenminister Ali Babacan spielen keine Rolle mehr.
(London) Dies ist ein trauriger Tag für die Verbündeten der Türkei und ein noch traurigerer Tag für die Türkei selbst, die die größte Volkswirtschaft im Nahen Osten ist sowie deren stärkste Militärmacht und deren kulturelle und geografische Brücke zum Westen. Erdogan hat einiges Gutes für sein Land getan. Als er 2003 erstmals zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, erbte er einen Staat, der schon seit mindestens eineinhalb Jahrzehnten zu Recht als kranker Mann Europas galt. Innerhalb von zehn Jahren zügelte er die Inflation, ordnete die Staatsfinanzen und liberalisierte die Märkte. (...)
Doch je mehr Erdogans Macht wuchs, desto despotischer setzte er sie ein. In den vergangenen vier Jahren war seine Herrschaft gekennzeichnet durch eine ungestüme und untaugliche Außenpolitik, eine Politik der Spaltung (im Inneren) sowie durch Verfolgungswahn. Nachdem er 2013 eine Welle von Protesten niedergeschlagen hatte, hat er mehr als ein Dutzend Abgeordnete und 80 Journalisten eingesperrt, 184 Medien geschlossen, und er hat – nachdem er einen mysteriösen gescheiterten Putsch knapp überlebt hatte – den Staat einer umfassenden Säuberung unterzogen. Das gestrige Referendum war die Kulmination und der Inbegriff dieser Entwicklung.
(Madrid) Der Sieg des Ja beim Verfassungsreferendum in der Türkei ist eine schlechte Nachricht. (...) Damit positioniert sich die Türkei vor den Toren des Clubs der sogenannten illiberalen Demokratien, das will heißen: innerhalb politischer Systeme, bei denen zwar regelmäßig gewählt wird, wo es aber keine Gewaltenteilung gibt und somit auch keine realen Möglichkeiten eines Machtwechsels oder der Informationsfreiheit, sondern stattdessen zusätzliche Einschränkungen der individuellen Freiheiten.
Diese Schwelle zu überschreiten würde die Türkei nicht nur auf einen Kollisionskurs mit der Europäischen Union führen – besonders wenn die Todesstrafe wieder eingeführt wird, wie Erdogan es in seiner Kampagne versprochen hatte –, sondern auch innerhalb der Türkei eine Ära der Polarisierung und Konfrontation einleiten.
(Rom) Die Türkei ist nicht länger Europa, kann Europa aber einen Stoß versetzen – und zwar einen gravierenden (...). Nach einem Moment der Hoffnung und der Öffnung haben sich die beiden Ufer des Mittelmeers voneinander entfernt, vielleicht unwiderruflich.