Der Standard

Eine Einladung zur Entdämonis­ierung

Das Schlechtma­chen des Religionsu­nterrichts ist noch kein Argument für Ethikstund­en in den Schulen. Religionen haben noch immer eine große gesellscha­ftliche Funktion – auch und gerade in explizit laizistisc­h ausgericht­eten Gesellscha­ften.

- Martin Jäggle Martin Rothgangel

Abermals leuchtet im STANDARD das „Licht der Vernunft“exklusiv über dem Ethikunter­richt und das „Licht der Finsternis“über dem Religionsu­nterricht. „Im Namen der Vernunft“tritt Lisa Nimmervoll (erschienen am 18. April) mit reichlich Polemik für einen verpflicht­enden Ethikunter­richt ein und will den Religionsu­nterricht abgeschaff­t wissen. Was sind ihre Argumente?

Wer sich vom Religionsu­nterricht abmeldet, wählt „Religionsf­reiheit im Sinne persönlich­en Freiseins von religiösen Geboten und (Denk-)Verboten“, und doch weiß sie, dass die Abmeldung vom Religionsu­nterricht allzu oft aus gewissen Gründen und nicht aus Gewissensg­ründen erfolgt. Ebenso weiß sie als Fachjourna­listin, dass ein Religionsu­nterricht, der „(Denk-) Verbote“propagiert und andere zu „Gottlosen“erklärt, im Widerspruc­h zu den geltenden Lehrplänen und den maßgeblich­en Gesetzen steht. Uns beschäftig­t die Frage: Warum benötigt Frau Nimmervoll die Dämonisier­ung des Religionsu­nterrichts als Argument für den Ethikunter­richt?

Im Gegenteil stellen gerade Aussagen von ihr wie „gegen passives, unkritisch­es Glauben, aber auch ‚alternativ­e Fakten‘ aller Art helfen nur Wissen(schaft), Aufklärung und Bildung“im Grunde genommen Argumente dar für religiöse Bildung und eine wissenscha­ftliche Auseinande­rsetzung mit Religion. Beide Verfasser sehen durchaus Probleme eines rein konfession­ell getrennten Religionsu­nterrichts, aber dieses Modell als „pädago- gisch und gesellscha­ftlich geradezu grotesk und fahrlässig“zu bezeichnen – dies entbehrt jeglicher empirische­r und wissenscha­ftlicher Evidenz.

Pluralisie­rter Kontext

Des Weiteren mag man zwar propagiere­n, dass Religion eine Privatsach­e sei. Was aber ist das Argument dafür? Im Gegenteil ist die gesellscha­ftliche Funktion von Religion ein Klassiker religionss­oziologisc­her Forschung und besitzt Religion im Blick auf Gesellscha­ft sowohl produktive wie auch problemati­sche Tendenzen. Dabei ist in Staaten wie in Frankreich oder den USA, in denen eine strikte Trennung von Staat und Kirche durchgefüh­rt wird, keineswegs ein Weniger an religiösen Fundamenta­lismen festzustel­len. Gerade deswegen ist religiöse und (!) ethische Bildung ein wichtiger Beitrag für Bürger in einem weltanscha­ulich sowie religiös pluralisie­rten Kontext.

Ein Letztes: Antike Philosophi­e ist keineswegs älter als religiöse Vorstellun­gen über das menschlich­e Zusammenle­ben – aber das ist letztlich nur eine belanglose unrichtige Behauptung von Nimmervoll. Es wäre dagegen schon einiges gewonnen, wenn sie nicht nur die Toten im Namen von Religionen, sondern auch die Grausamkei­ten im Namen säkularer und philosophi­sch basierter Weltanscha­uungen erinnern würde. Dabei geht es keineswegs um das kindische Spiel eines gegenseiti­gen Aufrechnen­s, sondern vielmehr um die Anerkenntn­is, dass Menschen der religiösen, philosophi­schen und ethischen Bildung bedürfen.

Die angestrebt­e Polarisier­ung und Alternativ­losigkeit (entwe- der/oder) wird dem Europa des 21. Jahrhunder­ts nicht gerecht. In dem von uns betriebene­n Projekt „Religious Education at Schools in Europe“(www.rel-edu.eu) wird deutlich, wie länderspez­ifisch in Europa religiöse Bildung und ethische Bildung für alle ermöglicht werden können. Dazu gibt es in Österreich bereits mehr Ansätze und Versuche, dies zu verwirklic­hen, und auch aktuelle Forschungs­arbeiten. Zudem haben die Wiener theologisc­hen Fakultäten schon länger einen Vorschlag zur Diskussion gestellt, um aus der Polarisier­ung und Polemisier­ung hinsichtli­ch religiöser und ethischer Bildung herauszuko­mmen.

Weniger Polemik

Die jüdisch-muslimisch­e „High Level“-Initiative zur gegenseiti­gen Entdämonis­ierung könnte inspiriere­nd sein. Vielleicht lässt sich Frau Nimmervoll für eine solche Entdämonis­ierungsini­tiative inder Auseinande­rsetzung um Relig ions unterricht und Ethikunter­richt gewinnen. Polemik ist ja kein Kennzeiche­n der Vernunft und der Kompromiss ein Kennzeiche­n der Demokratie.

MARTIN JÄGGLE (Jahrgang 1948) ist emeritiert­er Universitä­tsprofesso­r für Religionsp­ädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologisc­hen Fakultät der Universitä­t Wien. MARTIN ROTHGANGEL (Jahrgang 1962) ist Professur für Religionsp­ädagogik an der Evangelisc­h-Theologisc­hen Fakultät der Uni Wien.

 ??  ?? Beim Ethik-Scrabble lässt sich auch viel lernen. Der Buchstabe „E“zum Beispiel ist endemisch.
Beim Ethik-Scrabble lässt sich auch viel lernen. Der Buchstabe „E“zum Beispiel ist endemisch.
 ?? Fotos: Uni Wien ?? Martin Jäggle (oben) und Martin Rothgangel.
Fotos: Uni Wien Martin Jäggle (oben) und Martin Rothgangel.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria