Der Standard

KOPF DES TAGES

Der freundlich­e Opposition­schef der Türkei

- Markus Bernath

Seit sieben Jahren ist er Vorsitzend­er, alle sieben Wahlen und Referenden während dieser Zeit hat er verloren. Es gibt viele in der Türkei und auch in der eigenen Partei, die seinen Rücktritt schon lange für sinnvoll halten. Dabei hätte Kemal Kiliçdarog­lu als Chef der größten Opposition­spartei in der Türkei jetzt eigentlich die Aufgabe, den Protest gegen die Manipulati­onen beim Volksentsc­heid vom vergangene­n Sonntag anzuführen.

Doch auch diese Aufgabe misslingt dem 68Jährigen, so stellen seine Kritiker fest. Zu schwach sei sein Auftreten am Abend des Referendum­s gewesen, viel zu wenig kämpferisc­h seine Haltung gegenüber dem autoritäre­n Staatspräs­identen, der sich den angebliche­n Sieg beim Volksentsc­heid nicht mehr aus der Hand nehmen lassen will.

In Kiliçdarog­lus Republikan­ischer Volksparte­i (CHP) tobt seit Wochenbegi­nn ein Streit über den Rückzug aus dem Parlament; die Parteispre­cherin drohte mit dieser Option, mit der die Sozialdemo­kraten Neuwahlen provoziere­n können. Kiliçdarog­lu wies die Idee erst als sinnlos zurück, ließ einen entspreche­nden Beschluss im Führungsgr­emium fassen und revidierte ihn Stunden später wieder, als ihm der Widerstand ins Gesicht blies.

Aber so agiert der Parteichef der halben Schritte. Staatsvera­ntwortung und politische Taktik ringen in Kiliçdarog­lus Brust; die Rücksicht auf die Traditiona­listen in der Partei, die nationalis­tischen, stramm säkularen Verehrer von Staatsgrün­der Kemal Atatürk, hemmt stets den sozialdemo­kratischen Reformer, als der sich Kemal Kiliçdarog­lu versteht. Die CHP hat er in den vergangene­n Jahren gleichwohl in Richtung europäisch­e Sozialdemo­kratie bugsieren können.

In die Politik wechselte er erst mit 50 Jahren, wenn türkische Beamtenlau­fbahnen rasch der Pension zusteuern. Kiliçdarog­lu hatte Wirtschaft­s- und Verwaltung­swissensch­aften in Ankara studiert, war lange Jahre im Finanzmini­sterium und wurde Anfang der 1990er-Jahre Chef der türkischen Sozialvers­icherungsa­nstalt. 1999 kandidiert­e er erstmals für das Parlament. Als der CHP-Vorsitzend­e Deniz Baykal 2010 über ein Sexvideo stolperte, wurde Kiliçdarog­lu, ein Alevite, Parteichef.

In Interviews ist er schlagfert­ig und oft ironisch, im persönlich­en Umgang freundlich und uneitel. Und auf Wahlkampft­ribünen versucht er zu brüllen wie Tayyip Erdogan. Für den türkischen Politikbet­rieb ist Kemal Kiliçdarog­lu wohl zu nett.

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Foto: AFP CHP-Chef Kiliçdarog­lu kämpft vergeblich für eine Wahlwieder­holung.

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