KOPF DES TAGES
Der freundliche Oppositionschef der Türkei
Seit sieben Jahren ist er Vorsitzender, alle sieben Wahlen und Referenden während dieser Zeit hat er verloren. Es gibt viele in der Türkei und auch in der eigenen Partei, die seinen Rücktritt schon lange für sinnvoll halten. Dabei hätte Kemal Kiliçdaroglu als Chef der größten Oppositionspartei in der Türkei jetzt eigentlich die Aufgabe, den Protest gegen die Manipulationen beim Volksentscheid vom vergangenen Sonntag anzuführen.
Doch auch diese Aufgabe misslingt dem 68Jährigen, so stellen seine Kritiker fest. Zu schwach sei sein Auftreten am Abend des Referendums gewesen, viel zu wenig kämpferisch seine Haltung gegenüber dem autoritären Staatspräsidenten, der sich den angeblichen Sieg beim Volksentscheid nicht mehr aus der Hand nehmen lassen will.
In Kiliçdaroglus Republikanischer Volkspartei (CHP) tobt seit Wochenbeginn ein Streit über den Rückzug aus dem Parlament; die Parteisprecherin drohte mit dieser Option, mit der die Sozialdemokraten Neuwahlen provozieren können. Kiliçdaroglu wies die Idee erst als sinnlos zurück, ließ einen entsprechenden Beschluss im Führungsgremium fassen und revidierte ihn Stunden später wieder, als ihm der Widerstand ins Gesicht blies.
Aber so agiert der Parteichef der halben Schritte. Staatsverantwortung und politische Taktik ringen in Kiliçdaroglus Brust; die Rücksicht auf die Traditionalisten in der Partei, die nationalistischen, stramm säkularen Verehrer von Staatsgründer Kemal Atatürk, hemmt stets den sozialdemokratischen Reformer, als der sich Kemal Kiliçdaroglu versteht. Die CHP hat er in den vergangenen Jahren gleichwohl in Richtung europäische Sozialdemokratie bugsieren können.
In die Politik wechselte er erst mit 50 Jahren, wenn türkische Beamtenlaufbahnen rasch der Pension zusteuern. Kiliçdaroglu hatte Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften in Ankara studiert, war lange Jahre im Finanzministerium und wurde Anfang der 1990er-Jahre Chef der türkischen Sozialversicherungsanstalt. 1999 kandidierte er erstmals für das Parlament. Als der CHP-Vorsitzende Deniz Baykal 2010 über ein Sexvideo stolperte, wurde Kiliçdaroglu, ein Alevite, Parteichef.
In Interviews ist er schlagfertig und oft ironisch, im persönlichen Umgang freundlich und uneitel. Und auf Wahlkampftribünen versucht er zu brüllen wie Tayyip Erdogan. Für den türkischen Politikbetrieb ist Kemal Kiliçdaroglu wohl zu nett.