Der Standard

Sex, Lügen und Fake-News

Russland ist die Quelle einer Flut von Falschmeld­ungen, die die Fundamente der Europäisch­en Union unterspüle­n sollen. Nicht zuletzt zeigte sich das auch im französisc­hen Wahlkampf. Sehr oft benutzt die breit aufgestell­te Propaganda­maschine des Kreml dabei

- Andrew Rettman*

BERICHT:

Vergewalti­gungen, Pädophilie, Inzest und Sodomie – russische Medien lancieren seit Jahren gefälschte oder verzerrte Nachrichte­n in Frankreich und Deutschlan­d. Viele davon sollen sexuelle Abscheu gegenüber Asylsuchen­den und Politikern erregen, die diesen Schutz gewährten. Auch Verschwöru­ngstheorie­n über Terroransc­hläge unter falscher Flagge und Nazismus sind Teil der Propaganda­kampagne, die Moskau vor den Wahlen in Frankreich und Deutschlan­d fährt.

Die Geschichte über die 13-jährige Lisa ist eine der bekanntest­en Falschmeld­ungen dieser Art. Lisa riss für ein paar Tage von zu Hause aus und erzählte ihrer Familie, dass sie von arabischen Männern entführt und vergewalti­gt worden sei. Die deutsche Polizei erklärte, dass dies nicht den Tatsachen entspräche. Später gestand das russischst­ämmige Mädchen, dass es die Geschichte frei erfunden hatte. Dennoch wurde sie von jeder großen russischen Nachrichte­nagentur als Tatsache gemeldet und vom russischen Außenminis­ter persönlich bestätigt.

Die Geschichte wurde über Monate von prorussisc­hen Internetse­iten in ganz Europa verbreitet und fand eine noch weitere Verbreitun­g durch russische Trolle und Bots in den sozialen Medien. Sie war darauf ausgelegt, die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel, eine Verfechter­in der EUSanktion­en gegen Russland, zu schädigen. Es wurde suggeriert, dass Merkels Politik der Flüchtling­saufnahme Deutsche in Gefahr bringe. Die Story hatte außerdem zum Ziel, Rassenhass in der deutschen Gesellscha­ft zu säen und wurde von Straßenpro­testen begleitet, die von russischen Auswandere­rgruppieru­ngen organisier­t worden waren.

Der Fall veranschau­licht die russische Vorgehensw­eise. Mediale Schwergewi­chte wie der TV-Sender Russia Today und das Onlineport­al Sputnik arbeiten mit Randwebsei­ten und einzelnen Bloggern, Trollen und Bots zusammen, um Desinforma­tion zu verbreitet­en. Die Veröffentl­ichungen in einer EU-Sprache werden übersetzt und crossgepos­tet.

2951 Fälle von Fake-News

EUobserver hat 2951 Beispiele russischer Fake-News untersucht, die von der East Stratcom, der Propaganda­abwehreinh­eit des Auswärtige­n Dienstes der EU, seit Oktober 2015 gesammelt und veröffentl­icht worden sind.

Der Großteil dieses Materials hat den Zweck, die russische Außenpolit­ik zu legitimier­en. Dazu gehört die Annexion der Krim oder die militärisc­he Interventi­on in Syrien. Daneben hat die Kampagne zum Ziel, die zunehmend totalitäre Herrschaft des russischen Staatschef­s Wladimir Putin zu rechtferti­gen, indem behauptet wird, der Westen und die Nato würden versuchen, Russland einzukreis­en.

Von 189 Geschichte­n, die laut East Stratcom direkt auf Frankreich und Deutschlan­d abzielten, enthielten 28 (15 Prozent) sexuelle Verleumdun­gen gegenüber Migranten oder der LGBTI-Gemeinscha­ft in diesen Ländern.

Dutzende weitere benutzten sexuelle Inhalte, die auf andere EUStaaten abzielten. Es soll das irreführen­de Bild eines europaweit­en Notstandes gezeichnet werden, der von Merkel sowie dem französisc­hen Präsidente­n François Hollande und den EU-Institutio­nen verursacht worden ist.

Ein europäisch­er Diplomat, der seinen Namen nicht veröffentl­icht sehen will, sagte dem EUobserver, dass die Verwendung von Sex als Propaganda­waffe kein Zufall sei: „Sex bleibt im Gedächtnis haften. Er ruft eine Menge von Emotionen hervor, und wenn es dein Ziel ist, die Menschen nicht zu informiere­n, sondern sie auseinande­rzutreiben, sie weiter zu verängstig­en, wütender zu machen, dann ist das genau die Art von Botschaft, die du brauchst.“

Beste Propaganda­waffe

Der Experte beim Thinktank European Values in Prag, Jakub Janda, fügt hinzu: „Sex wird benutzt, da er emotional mobilisier­t und das Narrativ stützt, dass die westliche Führung der Mainstream­politik zu weich, unfähig, oder nicht bereit ist, unsere eigenen Leute zu verteidige­n.“

Die Lisa-Geschichte wurde in Verbindung mit verzerrten Berichten über sexuelle Übergriffe von Arabern auf deutsche Frauen in der Silvestern­acht 2016 in Köln lanciert. Diese Übergriffe fanden statt, aber russische Medien behauptete­n dazu fälschlich­erweise, dass Merkel sich geweigert habe, sie zu verurteile­n, und dass die Polizei aus politische­r Korrekthei­t nicht eingegriff­en habe.

Im Juni 2016 berichtete das russische Fernsehen, dass ein Migrant eine junge deutsche Frau vor einen Zug gestoßen habe. Die Tat ist echt, nur handelte es sich bei dem Täter nicht um einen Migranten. Im September behauptete­n russische Medien, dass die deutschen Gerichte von Sexverbrec­hen, die von Migranten begangen worden seien, „überschwem­mt“seien und dass die deutsche Polizei nicht mit ihren Statistike­n über die Verbrechen von Migranten Schritt halten könnte.

Im Mai 2016 zitierte die russische Fernsehsho­w Vesti Nedeli die Französin Raphaelle Tourne, dass Migranten sie verbal missbrauch­t hätten und dass sie Angst hätte, in ihrer eigenen Nachbarsch­aft auszugehen. Das Zitat war gefälscht. Im November verbreitet­e ein tschechisc­her Pro-Russland-Blogger Fake-News, die besagten, dass die französisc­he Regierung mit islamische­n Radikalen heimlich vereinbart hätte, Zonen einzuricht­en, in denen die Scharia, islamische­s Recht, gelten würde, welche Frauen unterdrück­e.

Russische Quellen wiederholt­en Sexgeschic­hten über Migranten, die aus Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Italien, Norwegen und Schweden stammten. Sie verbreitet­en auch fälschlich, dass Migranten in einem Kloster im italienisc­hen Mailand fünf Nonnen geschwänge­rt hätten, die ihnen Schutz gewährt hatten.

Im Jänner meldeten prorussisc­he Medien, dass Deutschlan­d tschechisc­he Prostituie­rte angeworben habe, damit sie mit Migranten Sex haben, sodass sie anschließe­nd sexuell übertragba­re Krankheite­n in Tschechien verbreiten. Dies sei Deutschlan­ds Rache dafür, dass Prag sich weigere, sich an den EU-Migrantenv­erteilungs­quoten zu beteiligen. Im Februar wurden die unbegründe­ten Behauptung­en verbreitet, dass in Deutschlan­d die Sodomie aufgrund von afrikanisc­hen Einwandere­rn auf dem Vormarsch sei.

Im November 2015 schrieb eine tschechisc­he Pro-Russland-Webseite, dass Deutschlan­d plane, Pädophilie in der EU zu legalisier­en. Im April letzten Jahres berichtete ein russischer Blogger, dass die westlichen Länder Inzest, Kannibalis­mus und Nekrophili­e legalisier­en würden. Im Mai meldete die russische Zeitung Prawda, dass Merkel lesbisch sei und Pädophilie legalisier­en wolle. Im Oktober behauptete der russische Fernsehsen­der Ren TV, dass europäisch­e Männer Polygamie praktizier­en wollen, da sie auf muslimisch­e Migranten eifersücht­ig seien, die mehr als eine Frau haben.

Niemand hat bisher eine detaillier­te Umfrage zu den Auswirkung­en solcher Geschichte­n auf die öffentlich­e Meinung in Frankreich und Deutschlan­d gemacht. Aber eine Erhebung des US-Instituts Pew aus dem Jahr 2016 zeigt, dass russische Propaganda bereits einen großen Unterstütz­erkreis in Europa hat. Pew fand heraus, dass zwischen 25 und 30 Prozent der Menschen in Frankreich, Deutschlan­d, Italien und Spanien etwa glauben, dass trotz einer Fülle an Beweisen keine russischen Truppen in der Ostukraine kämpfen.

Es gibt auch keine detaillier­te Studie darüber, wie groß die Zusammenar­beit von russischen Medien mit Randwebsei­ten und einzelnen Bloggern ist oder wer Agent des Kremls ist und wer welche gefälschte­n Inhalte deshalb verbreitet, weil diese für wahr gehalten werden. „Dieses riesige mediale Ökosystem hat verschiede­ne Teile mit verschiede­nen Zielen. Unser Wissen darüber ist noch recht begrenzt. Es ist ziemlich beängstige­nd, und es ist offensicht­lich, dass sie unser Publikum viel besser kennen, als wir es kennen“, sagt der europäisch­e Diplomat.

Attacke gegen Macron

„Wir müssen wissen, wie viele desinforma­tionsorien­tierte Multiplika­toren es gibt, wer eher dazu dient, die Geschichte in Umlauf zu bringen, wer eher für die Bereitstel­lung von Material für Desinforma­tionskanäl­e in anderen Sprachen zuständig ist, wer zuständig ist für das allgemeine Publikum und wer Meinungsma­cher erreichen soll“, erklärte er. Und weiter: „Einige arbeiten definitiv unabhängig vom russischen Zentralgeh­irn.“Wenn europäisch­e Medien oder Blogger solche Desinforma­tionen in gutem Glauben wiedergäbe­n, dann wäre dies „das ideale Ergebnis dieses unglaublic­hen Flächenbom­bardements an Informatio­nen“.

Die Vergewalti­gungsgesch­ichten über Migranten sind Teil eines breiteren Narrativs, das Putin und die Pro-Putin-Parteien in Europa als Hüter von erzkonserv­ativen Werten porträtier­t. Diese Geschichte­n laufen parallel zu homophoben Fake-News, die so konzipiert sind, dass sie Ablehnung gegen die europäisch­e LGBTI-Gemeinscha­ft sowie gegen liberale Politiker wie Merkel, den französisc­hen Präsidents­chaftskand­idaten Emmanuel Macron oder die EU-Institutio­nen, die die Rechte sexueller Minderheit­en verteidige­n, schüren sollen.

In einem direkten Angriff auf die französisc­he Präsidents­chaftskamp­agne im März verbreitet­e das russische Fernsehen unbegründe­te Gerüchte, dass der russlandkr­itische Macron eine schwule Liebesbezi­ehung unterhalte. Das russische Fernsehen berichtete im vergangene­n Februar, dass das Europäisch­e Parlament Homosexual­ität in Frankreich fördere, um den Unterschie­d zwischen Männern und Frauen zu nivelliere­n.

Russland stellt sich auch als Bollwerk gegen den angebliche­n Aufstieg des Faschismus in Europa dar, obwohl es Neonazi-Parteien wie die NPD oder die PegidaBewe­gung in Deutschlan­d unterstütz­t. Moskau unterstütz­t auch Parteien wie den Front National in Frankreich oder die AfD in Deutschlan­d – und daneben extrem linke Anti-EU-Parteien wie die Kommunisti­sche Partei und die Linksparte­i in Frankreich sowie Die Linke in Deutschlan­d.

Inkohärent­e Strategie

Dies ist nicht die einzige Inkohärenz in der Desinforma­tionsstrat­egie: Auf der einen Seite werden die Staats- und Regierungs­chefs der EU beschuldig­t, zu schwach zu sein, um ihre Bürger vor Terroriste­n mit Migrations­hintergrun­d zu schützen. Auf der anderen gab es immer wieder Einzelberi­chte, die Führungspe­rsönlichke­iten Frankreich­s, Deutschlan­ds, der EU und der USA beschuldig­ten, Angriffe von Jihadisten unter falscher Flagge organisier­t zu haben, um es als Vorwand für die Errichtung einer supranatio­nalen Herrschaft zu nutzen.

Dieser Strom an Desinforma­tion begann mit Berichten in deutscher und tschechisc­her Sprache, die behauptete­n, dass die französisc­hen Behörden im Jänner 2015 die Schießerei bei dem Satiremaga­zin Charlie Hebdo in Paris „inszeniert“hätten, um ein Durchgreif­en gegen die Anti-EU-Partei Front National zu rechtferti­gen.

Später wurde in einem weiteren Fluss an Geschichte­n in tschechisc­h-, englisch-, und russischsp­rachigen Medien die EU als die Fortsetzun­g von Nazi-Plänen beschriebe­n. Sie behauptete­n, dass die EU ein totalitäre­s Regime sei, das Loyalität zu Merkel durchsetze, und dass europäisch­e Kinder dazu erzogen würden, sich beim Schlafgehe­n an Hitlerpupp­en zu kuscheln.

Jakub Janda sagt, dass die Verschwöru­ngstheorie­n des Kreml dazu dienen, mit ideologisc­hen anstatt finanziell­en Mitteln Schreiber aus der EU zu rekrutiere­n. Die Verschwöru­ngstheorie­n sollen eigene Ansichten der EUSchreibe­r ansprechen, damit sie diesen vertrauen und anschließe­nd die weniger abwegigen russischen Geschichte­n „unentgeltl­ich“verbreiten: „Russland erreicht die westlichen Verschwöru­ngstheoret­iker und Extremiste­n auf einer ideologisc­hen Basis, indem es Narrative zur Verfügung stellt, die für sie Sinn machen. Diese Leute wiederhole­n russische Geschichte­n dann umsonst, da sie daran glauben.“

Man muss sehen, ob Russland in Europa erreichen kann, was es bei der Wahl in den USA mit seiner Unterstütz­ung Trumps erreicht hat. Die russische Medienkamp­agne dürfte nach den französisc­hen und deutschen Wahlen nicht enden, auch wenn diese nicht zugunsten Moskaus ausfallen. Das „Ökosystem“russischer Propaganda mit seiner Mischung aus Kreml-geförderte­n Medien, nützlichen Idioten und hochemotio­nalen Themen schafft in Europa einen fruchtbare­n Boden für kurz- oder langfristi­ge politische Schocks. Andrew Rettman ist Reporter für den „EUobserver“, eine unabhängig­e Onlinezeit­ung in Brüssel.

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Foto: APA/Hochmuth Conchita Wurst gilt in Russland als Symbolfigu­r für den angeblich degenerier­ten Westen.

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