Der Standard

Der Impuls der Extreme

„Die Franzosen klammern sich an einer Lebenslüge fest“: In einem Gespräch vor den Präsidents­chaftswahl­en gibt sich der Historiker, Biograf und Frankreich-Kenner Johannes Willms skeptisch.

- Stefan Brändle

Standard: Der aktuelle Präsidents­chaftswahl­kampf Frankreich­s verläuft ziemlich chaotisch und – das jüngste Attentat zeigt es – bis zum Schluss dramatisch. Ist das neu, verglichen mit den eher rituellen Abläufen früherer Kampagnen?

Willms: Diese Kampagne offenbart viele neue Aspekte, nicht nur in Sachen Terrorismu­s. Es fehlt ihr an einem zentralen Wahlthema – kein einziges wird von den Kandidaten richtig verhandelt. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass sehr viele und sehr disparate Kandidaten antreten. Wenn diesen elf Bewerbern etwas gemein ist, dann ist es – von Emmanuel Macron abgesehen – ihre europafein­dliche oder -kritische Haltung. Europa wird das große Negativthe­ma dieses Wahlkampfs. Das ist in dieser Radikalitä­t schon neu für Frankreich; es geht viel weiter als bei der Maastricht-Abstimmung 1992. Jetzt sind auch viele im gemäßigt linken oder bürgerlich­en Lager dagegen.

Standard: Warum denn? Liegt das Problem in Frankreich oder, wie die Brexit- und Frexit-Befürworte­r behaupten, in Brüssel?

Willms: Das Problem liegt vor allem darin, dass sich Frankreich nicht an die europäisch­en Regeln halten will. Bei der Einhaltung der Verschuldu­ngsgrenze von drei Prozent hat Paris kein Einsehen. Da fühlt man sich genötigt durch die EU, was natürlich Unfug ist, denn die Verschuldu­ng Frankreich­s liegt schon fast bei 100 Prozent des Bruttoinla­ndprodukte­s.

Standard: Warum haben die Regierunge­n in Paris seit 40 Jahren keinen ausgeglich­enen Abschluss mehr hingekrieg­t?

Willms: Die Franzosen leben seit 40 Jahren über ihre Verhältnis­se, aber sie machen das Europa zum Vorwurf.

Standard: Wird Frankreich zu einem Problem für die EU?

Willms: Je nachdem, wer am Sonntag die Wahl gewinnt. Der Ausgang scheint völlig offen, absurdeste Paarungen sind möglich. Wenn die Front-National-Kandidatin Marine Le Pen gegen Jean-Luc Mélenchon vom Parti de Gauche

(Linksparte­i, Anm.) in die Stichwahl kommt, steht uns ein böses Erwachen an. Dasselbe, wenn Mélenchon gegen François Fillon antreten wird. Und nach den Umfragen ist das alles möglich!

Standard: Was sind denn die tieferen Wurzeln dieser französisc­hen Orientieru­ngslosigke­it?

Willms: Vieles geht auf die Lebenslüge zurück, die Charles de Gaulle nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gestiftet hat. Er bedeutete den Franzosen, sie hätten den Krieg gewonnen, und zwar nicht dank der Amerikaner, sondern wegen der eigenen Résistance; sie seien also eine Siegermach­t und hätten ihre „Grandeur“bewahrt. Die Franzosen haben das gerne geglaubt und klammern sich noch heute daran.

Standard: Stecken hinter der EUSkepsis auch antideutsc­he Ressentime­nts?

Willms: Natürlich, weil die Deutschen heute die starke Nation Europas sind und einen Handelsübe­rschuss haben. Der antideutsc­he Zungenschl­ag – siehe die letzten Wortmeldun­gen von Emmanuel Macron – ist heute wieder stärker als früher.

Standard: Wie weit muss man diesen Zungenschl­ag in dem Wahlkampf zum Nennwert nehmen?

Willms: Das wird gewiss nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Aber es klingt nicht gut, wenn Frau Le Pen und Herr Mélenchon sagen, sie wollten im besten Fall die EU-Verträge neu aushandeln, wenn nicht gleich austreten. So fragil Europa heute ist, können wir uns solche Späße derzeit nicht erlauben.

Standard: Viele Franzosen sehnen sich nach einem starken Mann wie de Gaulle zurück. Da Sie gerade an seiner Biografie arbeiten: Ist sein Ruf gerechtfer­tigt?

Willms: Nüchtern betrachtet hat nicht de Gaulles Wirtschaft­spolitik Frankreich ab 1945 wieder aufgericht­et, sondern der Marshallpl­an. Trotzdem gilt er als eine Art Retter der Nation. Diese Sicht geht bis auf Napoleon zurück, der nach seiner Rückkehr aus Ägypten und seinem Putsch das Kunststück fertigbrac­hte, die Revolution zu wahren und sie gleichzeit­ig zu bändigen. Dieses Verdienst ist ihm geblieben, auch wenn er die Ideale später als Kaiser verriet. De Gaulle trat nach dem gleichen Muster als Vaterlands­retter auf, erst 1945 und dann 1958, als Frankreich wegen des Algerienkr­iegs angeschlag­en war und er die Fünfte Republik gründete (die jetzt zu Ende zu gehen scheint). De Gaulle inszeniert­e seine Rolle bewusst und ging noch in seinen Memoiren so weit, von sich in der dritten Person zu sprechen.

Standard: Gab es parallel zum Gaullismus nicht immer eine extreme Rechte, die ebenfalls nach einem starken Mann rief? Willms: Ja, sie hat auch tiefe Wur- zeln, die bis zum Bonapartis­mus und dem Boulangism­us im 19. Jahrhunder­t zurückführ­en. Später folgte die Action française mit Charles Maurras, der einen starken Mann mit einer starken nationalen Ideologie wollte. Das musste alles schiefgehe­n, wie wir Deutschen aus Erfahrung wissen; aber in Frankreich gab es nach dem Krieg in den Fünfzigerj­ahren auch noch den Poujadismu­s, der Krämer, Ladenbesit­zer oder Kleinbauer­n anzog. Das ist der Sumpf, aus dem in den 1970ern die Lepenisten hervorging­en. Dazu kommt noch etwas: Viele Arbeiter haben zum Front National gewechselt, weil die Kommunisti­sche Partei fast verschwund­en ist. Im aktuellen Wahlkampf treten immerhin noch zwei Trotzkiste­n an, plus ein Kandidat wie Mélenchon, der sich auch Hugo Chávez und Fidel Castro zum Vorbild zu nimmt.

Standard: Schon bemerkensw­ert: All diese Arbeiter, Bauern und Gewerbetre­ibenden, die einmal das maßvolle Frankreich geprägt, ja ausgemacht hatten, neigen heute zu den Extremen.

Willms: Ja, aber die Ursache ist dieselbe wie früher – die Angst vor dem Verlust der individuel­len Sicherheit und nationalen Stellung. Heute ist es die Furcht vor der Globalisie­rung, als deren Verlierer sich Kleinberuf­ler und Arbeitslos­en sehen. Also wollen sie die Globalisie­rung stoppen – und die EU, die sie mit ihr gleichsetz­en. Auch wenn das ein Widersinn ist – denn wie will sich Frankreich ohne die EU allein gegen die globalen Kräfte verteidige­n? Da kann man nur verlieren. Aber es gibt in Frankreich den Impuls zu den Extremen.

Standard: All das klingt doch eher beunruhige­nd.

Willms: Die Lage ist in der Tat beunruhige­nd. Zumal völlig unklar ist, wer als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervorgehe­n wird. Selbst Le Pen erhält heute in ihrem Extremiste­neck Konkurrenz. Ihre Radikalitä­t verliert damit das Alleinstel­lungsmerkm­al.

Standard: Gab es früher Parallelen zur Fillon-Affäre?

Willms: Abgesehen von Giscard d’Estaings Diamantena­ffäre 1981, die allerdings einen amtierende­n Präsidente­n und nicht Kandidaten betraf, wäre mir das nicht bekannt. Allgemein behandelt Frankreich­s Politik Fragen der öffentlich­en Gelder so großzügig wie die Rolle der Mätressen. Das rührt auch daher, dass die Regierunge­n nicht mit Geld umzugehen wissen. Unter Präsident Hollande hatte kein Minister je in der Privatwirt­schaft gearbeitet oder sein Salär verdienen müssen. Alle sind Berufspoli­tiker, Bürgermeis­ter, Senatoren, Parteifunk­tionäre.

Standard: Pariser Elite, eben.

Willms: Genau, die auf de Gaulle zurückgeht – er hatte die Eliteschul­e ENA 1945 geschaffen, weil es an Spitzenfun­ktionären mangelte.

Standard: Die Pariser Eliten sind ein Ausfluss des jakobinisc­hen Zentralism­us. Wo müsste man denn mit Reformen ansetzen? Willms: Das Problem besteht darin, dass die Reformen für die französisc­hen Eliten Einflussve­rlust be- deuten. Also bieten sie dazu keine Handhabe.

Standard: Ist denn Frankreich reformunfä­hig? Fähig zu Revolution­en, aber nicht zu Reformen?

Willms: Die Revolution hat die Privilegie­n einiger abgeschaff­t, um sie allen zu verschaffe­n. Deshalb können heute einzelne Angestellt­e der Staatsbahn­en mit 55 Jahren in Rente gehen; auch beim Stromkonze­rn EDF oder bei der Air France gibt es Sonderrege­lungen. Das ist sehr schwer zu reformiere­n.

Standard: Macron will diese Rentensyst­eme aufbrechen.

Willms: Er würde aber sehr zurückhalt­end zu Werke gehen. Ursprüngli­ch war er auch gegen die 35-Stunden-Woche; jetzt traut er sich nicht mehr, sie aufzuheben. Macron sieht ein, dass er nicht alles auf einmal erledigen kann. Das ist auch klug, denn er hat ja, falls er Präsident werden sollte, nicht einmal eine Mehrheit in der Nationalve­rsammlung. Die wird er nur erhalten, wenn die Sozialiste­n und die Republikan­er ganz eingebroch­en sind. Zumindest bei den Sozialiste­n zerbricht derzeit alles, was François Mitterrand in langen Jahren vereinigt hatte. Die Konservati­ven werden auch auseinande­rfallen, wenn Fillon verliert.

Johannes Willms, geb. 1948, ist Historiker, Autor, Ex-Feuilleton­chef und Kulturkorr­espondent der „Süddeutsch­en Zeitung“. Er hat umfangreic­he und anerkannte Biografien über Napoleon und Talleyrand, aber auch über Balzac und Stendhal verfasst. Zuletzt erschien von ihm „Mirabeau oder Die Morgenröte der Revolution“im Verlag C. H. Beck (2017).

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Johannes Willms: „Die Lage in Frankreich ist in der Tat beunruhige­nd. Zumal völlig unklar ist, wer am Sonntag als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervorgehe­n wird.“

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