Der Standard

Brasiliens Arme machen mobil

Erstmals seit 1996 soll es am Freitag in Brasilien einen Generalstr­eik geben. Auch die Kirchen haben dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen gegen Sparpläne, die die Regierung als überlebens­notwendig anpreist. Deren Vorhaben treffe vor allem Arme, sagen

- Manuel Escher

Das vergangene Jahr habe die Leute in Brasilien völlig überrollt, sagt Naidison de Quintella Baptista. „Es war, als ob wir Rauschgift bekommen hätten.“Wie gelähmt hätten er und andere Vertreter der Zivilgesel­lschaft zugesehen, als nach Großprotes­ten der städtische­n Mittelschi­cht die Mitte-links-Regierung der brasiliani­schen Präsidenti­n Dilma Rousseff abgesetzt wurde. Dann sei alles Schlag auf Schlag gegangen, sagt der einstige Theologe, der seit Jahrzehnte­n die Sozialorga­nisation ASA im Bundesstaa­t Bahia führt, zum STANDARD. Bevor sich Gegenprote­st bilden konnte, waren viele soziale Errungensc­haften gestrichen. Hilfen für Bauern wurden eingefrore­n, Ministerie­n, die für die Bildung der ärmeren Schichten zuständig waren, geschlosse­n.

Doch die Lähmung der Opposition soll nun vorbei sein. Am Freitag ist in Brasilien ein Generalstr­eik geplant, der erste seit 1996. Er richtet sich gegen ein Gesetz zur Streichung weiterer Sozialleis­tungen und von Arbeitsrec­hten. Auch die katholisch­e Kirche meldet sich als Politikfak­tor zurück. Bischöfe fordern die Gläubigen in Hirtenbrie­fen auf, den Streik zu unterstütz­en. Ähnliches gab es zuletzt während des Übergangs aus der Militärdik­tatur.

Die Regierung hat nur geringe Zugeständn­isse gemacht und ansonsten angekündig­t, hart bleiben zu wollen. Sie sagt, Brasilien müsste vor dem Ruin gerettet werden. Der Staatshaus­halt könne Sozialleis­tungen aus der Zeit Rousseffs und ihres Vorgängers Luiz Inácio Lula da Silva nicht verkraften.

Unpopulär statt Populist

Der vormalige Vizepräsid­ent Michel Temer war nach der Absetzung Rousseffs an die Macht gekommen, der vorgeworfe­n wird, das Budget geschönt zu haben. Auch er und viele seiner Minister sind der Korruption verdächtig. Doch das hat seine Regierung nicht daran gehindert, ein ambitionie­rtes Reformprog­ramm zu verfolgen. An erster Stelle steht ein Ziel: den Haushalt durch harte Einschnitt­e wieder in Balance zu bringen. Er sei „lieber unpopulär als ein Populist“, sagte Temer dazu jüngst dem britischen Econo- mist. Das scheint derzeit auch leichter erreichbar: Seine Zustimmung­swerte liegen unter 30 Prozent. Viele Anhänger Rousseffs sprechen ihm überhaupt bis heute die Legitimitä­t ab.

Ähnlich sieht es Quintella Baptista, der Temer als Kandidat jener Eliten betrachtet, die in Bahia jahrelang den Zugang der Armen zu Wasser und Land blockiert hätten. Erst 2002 begann die Regierung, Sozialproj­ekte der ASA zu fördern. Nach und nach war so Geld zusammenge­kommen, um eine Million Zisternen zu bauen. 4,5 Millionen Menschen sind nun nicht mehr von Zuwendunge­n abhängig, mit denen sich Politiker oft Stimmen erkauft hatten. Sie können das selten, aber wenn, dann heftig fallende Regenwasse­r selbst sammeln. Vor der Wahl fährt nicht mehr der Wassertruc­k vor.

Doch nun sei es mit dem Fortschrit­t vorerst vorbei. „Die Regierung hat in diesem Jahr keine einzige Zisterne mehr finanziert“, sagt Quintella Baptista. Wenn nun gespart werde, so sein Eindruck, dann bei den ärmsten Brasiliane­rinnen und Brasiliane­rn. Jenen, die nicht im vergangene­n Sommer gegen die Regierung Rousseffs auf die Straße gegangen sind.

Dass er nun wieder stärker von Spenden abhängig ist, hat Quintella Baptista auch nach Wien geführt. Gemeinsam mit dem Oberösterr­eicher Harald Schistek, der mit der NGO Irpaa seit Jahrzehnte­n ähnliche Programme verwirklic­ht, trat er vor den entwicklun­gspolitisc­hen Sprechern von SPÖ, ÖVP und Grünen im Parlament auf.

Doch eigentlich gehe es nicht ums Geld. „Jahrelang ist alles besser geworden“, sagt er und zählt auf, was die Regierunge­n Lulas und Rousseffs als Erfolgsbil­anz sehen: Kanalisati­on in Städten, gemeinnütz­iger Häuserbau, Hilfe für Bauern, Bildung für Ärmere. „Wir waren begeistert von der Entwicklun­g, wir glaubten, es gehe immer so weiter. Die Bewusstsei­nsbildung blieb dabei zurück.“Das müsse sich ändern. Ärmere Gruppen sollten von ihren gesetzlich­en Rechten erfahren.

Kein schneller Wandel

2018 wird in Brasilien wieder gewählt. Doch dass es mit dem Wandel so schnell geht, bezweifeln beide. Umfragen sehen Lula, der mit einem neuen Antritt spekuliert, deutlich voran. Ob es dazu kommt, ist unsicher. Rechte, Eliten und Massenmedi­en würden alles tun, um eine Kandidatur des Expräsiden­ten zu verhindern, vermutet Quintella Baptista. Ein Antritt ist auch deshalb fraglich, da auch gegen Lula wegen Korruption ermittelt wird. Er soll, lautet der Vorwurf, in ein Netz rund um den staatliche­n Ölkonzern Petrobras verstrickt gewesen sein. Dieser habe im Gegenzug für die Vergabe öffentlich­er Aufträge Gelder an die Arbeiterpa­rtei überwiesen.

 ??  ?? Schon seit Wochen demonstrie­ren Gegner der Regierung von Michel Temer gegen die Sparpläne des brasiliani­schen Kabinetts. Am kommenden Freitag rufen sie die Bürgerinne­n und Bürger zum Generalstr­eik – dem ersten seit zwei Jahrzehnte­n.
Schon seit Wochen demonstrie­ren Gegner der Regierung von Michel Temer gegen die Sparpläne des brasiliani­schen Kabinetts. Am kommenden Freitag rufen sie die Bürgerinne­n und Bürger zum Generalstr­eik – dem ersten seit zwei Jahrzehnte­n.

Newspapers in German

Newspapers from Austria