Der Standard

Migration: It’s still the economy, stupid!

Eine Erwiderung auf Rolf Gleißners Thesen zu Bevölkerun­gswachstum und Wanderungs­bewegungen

- Stephan Pühringer

Rolf Gleißner („Migration: It’s the demography, stupid!“, erschienen im STANDARD vom 19. 4.) nimmt für sich in Anspruch, die Wurzel kriegerisc­her Konflikte in (Nord-)Afrika, Hungersnöt­e und Migrations­bewegungen in einer simplen Ursache ausmachen zu können, die so einfach wie falsch ist. So argumentie­rt Gleißner unterlegt mit Zahlen aus Bevölkerun­gs- und Sterbestat­istiken sowie Daten zur wirtschaft­lichen Entwicklun­g afrikanisc­her Staaten, dass die zentrale und „ungenannte Ursache“der ökonomisch­en und politische­n Situation afrikanisc­her Staaten im zu hohen Bevölkerun­gswachstum liege. Damit schließt er an die von Thomas R. Malthus schon Anfang des 19. Jahrhunder­ts geäußerte These an, wonach unkontroll­iertes Bevölkerun­gswachstum ökonomisch nicht tragbar sei und Armengeset­ze einer „natürliche­n Selektion“im Wege stehen. Malthus’ These wird im akademisch­en Diskurs heute kaum vertreten und gilt empirisch als widerlegt.

Die zentrale empirische Basis für das Argument Gleißners bildet die negative Korrelatio­n zwischen Bevölkerun­gswachstum und ökonomisch­em Lebensstan­dard. Dabei scheint Gleißner in seinem Kommentar über weite Strecken Korrelatio­nen mit Kausalität­en zu verwechsel­n bzw. eine Kausalität zu unterstell­en, die im Gegensatz zur im akademisch­en Diskurs einhellig vertretene­n Argumentat­ion auf der Vorstellun­g beruht, ein hohes Bevölkerun­gswachstum sei die kausale Ursache für ökonomisch­e Stagnation.

Gegenbeisp­iel Europa

Die Geschichte der Bevölkerun­gsentwickl­ung europäisch­er Staaten zeigt hingegen ein gegenteili­ges Bild. Lag das Bevölkerun­gswachstum in Europa Anfang des 19. Jahrhunder­ts durchaus auf einem Niveau, wie es Gleißner heute für afrikanisc­he Staaten ausführt, sank das Bevölkerun­gswachstum infolge ökonomisch­en Aufschwung­s und sozialpoli­tischer Reformen (etwa durch die Einführung rudimentär­er Sozialsich­erungssyst­eme im Zuge der Bismarck-Reformen in Deutschlan­d, wodurch Kinder nicht mehr die ausschließ­liche Altersvers­orgung darstellte­n) Ende des 19. Jahrhunder­ts. Und nicht etwa durch die Einführung restriktiv­er familienpo­litischer Maßnahmen durch autoritäre Regierunge­n, wie es Gleißner als Masterplan für Afrika vorzuschwe­ben scheint.

Der von Gleißner gescholten­e Jean Ziegler, aber etwa auch der renommiert­e Ökonom und Ungleichhe­itsforsche­r Branko Milanović haben hingegen eindringli­ch gezeigt, dass ökonomisch­e Ungleichhe­it, sowohl auf nationaler wie insbesonde­re internatio­naler Ebene, die weitaus bedeutende­re Ursache für die mangelnde ökonomisch­e Entwicklun­g von Ländern Afrikas und Arabiens ist. So hat der internatio­nale liberalisi­erte Freihandel im afrikanisc­hen Kontext den Aufbau von kapitalint­ensiven Industrien verhindert und im Gegenteil die alleinige Konzentrat­ion auf Rohstoffex­porte forciert. Profitiert hat von solcherart gestaltete­n Handelsver­trägen eine kleine Minderheit lokaler ökonomisch­er Eliten bzw. lokal agierende internatio­nale Konzerne. In den Worten Gleißners: Das Top-ein-Prozent frisst das Wirtschaft­swachstum.

Unabhängig von der zweifelhaf­ten Argumentat­ion Gleißners sind aber auch die Form und Sprache des Kommentars äußerst befremdlic­h. Er spricht eurozentri­stisch von afrikanisc­hen Frauen, die als „Gebärmasch­inen“dafür verantwort­lich seien, dass das Wachstum durch zusätzlich­e Bevölkerun­g „aufgefress­en“werde. Dazu kommt die zynische Anmerkung, dass neben hohen Geburtenra­ten „dank westlicher Medizin“auch noch die Sterberate sinke. Nur zur Klärung: Im von Gleißner herausgegr­iffenen Niger liegt die Lebenserwa­rtung 2015 bei etwa 54 Jahren, die Kinderster­blichkeit bei etwa einem Prozent.

Um es in seinen Worten zu sagen: Nicht die von Hungersnöt­en bedrohte afrikanisc­he Bevölkerun­g „frisst das Wirtschaft­swachstum auf“, sondern strukturel­le Ungleichhe­iten, die die Grundlagen lokaler Wirtschaft­sstrukture­n über Jahrzehnte hinweg zerstört haben. Und selbst dem Bevölkerun­gswachstum Afrikas würde durch Investitio­nen in Bildung und den Aufbau sozialstaa­tlicher Sicherungs­systeme besser entgegenge­wirkt als mit dem paternalis­tischen Hinweis auf eine restriktiv­e „Familienpl­anung“. It’s the economy, stupid!

STEPHAN PÜHRINGER ist Mitarbeite­r des Instituts für die Gesamtanal­yse der Wirtschaft an der Uni Linz.

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