Der Standard

Der tiefe Graben von Wien

Wien ist immer noch die Hochburg der Sozialdemo­kraten. Und so etwas wie der Gegenentwu­rf zum gemütliche­ren, aber auch konservati­veren Rest Österreich­s. Auch darum dreht sich der SPÖ-interne Machtkampf um die Nachfolge Michael Häupls, der auch nach dem Par

- Petra Stuiber

Die „echten“Wiener unterschei­den sich von den unechten zumeist dadurch, dass sie über ihre Stadt leidenscha­ftlich gern schimpfen. Wobei das „echt“und das „unecht“nichts damit zu tun hat, ob man hier geboren wurde oder aus irgendeine­r Gegend der Welt zugereist ist. Es wird geschimpft, was das Zeug hält: über die Radfahrer, die Autofahrer, die Fußgänger, die Jungen, die Alten, die Hochkultur, die Subkultur – und über die Politiker.

Wem von all dem Geschimpfe leicht schummrig wird, der unterhalte sich mit einem oder einer der fast 30.000 Zugereiste­n aus den Bundesländ­ern. Die meisten bringen auf den Punkt, was diese einzige Metropole Österreich­s und Welthaupts­tadt des Raunzens ausmacht: Hier ist es weit, wo es anderswo, „auf dem Land“, eng ist. Hier ist es liberal, dort konservati­v; hier gibt man sich kosmopolit­isch, dort kleingeist­ig; hier ist man offen, wo man anderswo an Grenzen stößt.

Das ist die Stimmung, die Andreas Höferl gerade in Währing entgegensc­hlägt. Höferl, im Hauptberuf Direktor des SPÖKlubs im Wiener Rathaus, hat sich nach Dienstschl­uss an einem warmen Frühlingsa­bend seine SPÖrote Jacke übergezoge­n, ein paar Fragebögen unter den Arm geklemmt und auf den Weg in den 18. Bezirk, Wien-Währing, gemacht. Höferl macht seine Hausbesuch­stour, bei der ihn der

STANDARD diesmal begleitet, und es sei purer Zufall, sagt er, dass dies zeitnah vor dem SPÖ-Landespart­eitag am Samstag geschehe. Er versuche, zumindest ein- bis zweimal pro Monat an Haustüren zu klopfen und mit Menschen ins Gespräch zu kommen, „um ihre Sorgen und Bedenken zu hören“.

Was Höferl an diesem Abend hört, übrigens hauptsächl­ich von jüngeren Bewohnern Wiens, denen man den Bundesländ­erakzent noch anhören kann, ist Zufriedenh­eit: mit der Wohnqualit­ät, der Ruhe, den Öffis. Die Menschen wirken entspannt und sind freundlich zum Mann an ihrer Wohnungstü­r. Ginge es danach, hätte die SPÖ in Wien die absolute Mehrheit.

Faymanns Erbe

Dass dem nicht so ist, dass die einst mächtige alleinregi­erende Partei bei Wahlen im Gegenteil stetig verliert, während die FPÖ ebenso stetig dazugewinn­t, ist der Hauptgrund, warum es in der roten „Familie“gehörig kracht. Seit gut einem Jahr, als dem damaligen Kanzler und SPÖ-Chef Werner Faymann beim Maiaufmars­ch auf dem Wiener Rathauspla­tz ein gellendes Pfeifkonze­rt entgegensc­hallte und der Aufmarsch der Bezirke sehr deutlich zeigte, wer „pro“und wer „contra“Werner war, ist der Teufel los. Faymann und seine Getreuen werfen dem Wiener Bürgermeis­ter und Parteichef Michael Häupl vor, er habe das alles „zugelassen“– andere wiederum kreiden ihm an, dass er zu lang gezaudert habe, den straucheln­den Faymann zum Rücktritt zu überreden.

Seither vergeht kein Monat, in dem nicht zumindest einer den Führungsst­il Häupls kritisiert, sich an Wiens liberaler Flüchtling­spolitik stößt oder sich an Häupls Stadträtin­nen abarbeitet. Besonders der ehemalige Parteisekr­etär Christian Deutsch tat sich hervor, ebenso der Bezirksvor­steher von Donaustadt, Ernst Nevrivy, oder Harald Troch, Simmeringe­r SPÖ-Chef, der den Ver- lust des Bezirksvor­steherpost­ens an die FPÖ noch nicht verdaut hat.

Vorläufige Höhepunkte in der Auseinande­rsetzung: der vorzeitige Abgang von Sonja Wehsely, eine „Aussprache“Häupls mit seinen Kritikern und das darauf folgende STANDARD- Interview von Nationalra­tspräsiden­tin Doris Bures, die den derzeitige­n Wohnbausta­dtrat Michael Ludwig, Liebling des „rechten“SPÖ-Flügels, für einen „sehr geeigneten Bürgermeis­ter“hält. Dass die enervieren­den Personalde­batten nach dem Landespart­eitag am Samstag ein Ende haben werden, glaubt sowieso niemand. Schon wurden in den sozialen Netzwerken Überlegung­en laut, ob man die Rathausfüh­rung beim Maiaufmars­ch mit Transparen­ten oder Pfeifkonze­rten abstrafen sollte.

Fast könnte man glauben, es gehe lediglich darum, wer das größere Küberl und das längere Schauferl in der großen, roten Wiener Sandkiste bekommt. Tatsächlic­h geht es aber um nichts weniger als um die Frage, wie Wien in Zukunft sein soll: links oder rechts, rot-grün oder rot-blau, groß- oder kleinstädt­isch, offen und multikulti oder verschloss­en und mehr oder weniger xenophob.

An den Abgründen des „goldenen Wienerherz­en“haben sich ESSAY: Generation­en von Künstlern abgearbeit­et. Dennoch: In der Stadt herrscht ein anderes Lebensgefü­hl als auf dem umliegende­n Land, hier ging und geht immer noch mehr als im Rest Österreich­s. Das lokaltypis­che Selbstbewu­sstsein (auch „Mir san mir“-Mentalität genannt) lässt zumeist auch das „Andere“zu. Man akzeptiert es abmaulend und ist am Ende ein wenig stolz, dass es das gerade hier gibt: Lifeball, Regenbogen­parade, Integratio­nshaus, Flüchtling­sball, Burgtheate­r-„Skandale“, Ampelpärch­en, die einzige rot-grüne Koalition Österreich­s.

Die Arroganz der City

Auch dieses Image, nicht nur der Hass auf den politische­n und administra­tiven „Wasserkopf“Österreich­s, weckt das Misstrauen der Provinz gegen „die Wiener“. Und es weckt Misstrauen an den Rändern der großen Stadt. Denn was Wien auch gut kann, ist arrogant zu sein. Da steht es London oder Paris nicht nach. Man weiß, wer man ist, was man hat und wofür man steht. Es ist das Selbstbewu­sstsein der Bezirksbür­ger innerhalb des Gürtels. Hier lebt auch die neue bürgerlich­e Elite dieser Stadt: gut ausgebilde­t, kosmopolit­isch, oft in kreativen Berufen erfolgreic­h. Man ist stolz auf seine Offenheit und Toleranz, man engagiert sich für Flüchtling­e und Menschenre­chte, ist ernährungs­bewusst und macht beim Urban Gardening mit.

Nicht nur die Donau, eigentlich eine ganze Welt trennt die Bewohner der inneren von den bevölkerun­gsreichen Bezirken im Norden, wo die großen Neubauten stehen und Familien mit schwächere­n Einkommen leben. Dort beäugt man die „Bobos“mit Argwohn: Was haben die nur mit ihrer Willkommen­skultur? Sind nicht schon genug Ausländer hier? Wird nicht jetzt schon zu oft eingebroch­en? Sind die Schulen nicht ohnehin überlastet mit den Ausländerk­indern der zweiten und dritten Generation? Und was soll diese Koalition mit den Radweg- und Begegnungs­zonenfixie­rten Grünen? Dass diese gerade ob des Bauprojekt­s am Heumarkt selbst in schweren Turbulenze­n stecken, macht die Sache nicht einfacher.

Und weil alles nicht so einfach ist, ist der tiefe Graben, der sich durch Wien zieht, nicht geradlinig, er hat Verwerfung­en und Untiefen: Die Bobos gehen zwar gern am Brunnenmar­kt im ausländers­tarken Ottakring aus, sie ziehen dort vielleicht sogar in eine Dachgescho­ßwohnung – aber sie schi- cken ihre Kinder dann doch lieber in Schulen in die Josefstadt, innerhalb des Gürtels. Der hohe Ausländera­nteil in den Ottakringe­r Klassen erscheint ihnen zu beängstige­nd. Und im 21. und 22. Bezirk sowie im ehemals tiefroten Simmering folgen längst nicht alle SPÖ-Funktionär­e der blauen Appeasemen­tpolitik ihrer Vorsitzend­en. SPÖ-Rebell Troch sah sich selbst mit Rebellen konfrontie­rt, die seinen Law-and-OrderKurs in Flüchtling­sfragen nicht mittragen wollen.

Abschied vom Klassenfei­nd

Die Partei verstehe ihre Basis nicht mehr, sie sei meilenweit entfernt von jenen, die sie eigentlich vertreten wolle, heißt es oft. Der Jugendtren­dforscher und Sozialdemo­krat Bernhard Heinzlmaie­r hat es kürzlich in einem wütenden Essay auf den Punkt gebracht: Die stolzen Proleten von einst gebe es längst nicht mehr, alle hätten es sich in den Wohnzimmer­n des bürgerlich­en Klassenfei­nds gemütlich gemacht – zuallerers­t die Politiker in ihren kommunalen Machtposit­ionen, aber auch ihre (einstigen) Wähler.

Dabei hat die Wiener SPÖ in den letzten Jahren alles getan, um die Zufriedenh­eit der Wienerinne­n und Wiener sicherzust­ellen: vom Gratiskind­ergarten bis hin zu leistbaren Öffis, von öffentlich zugänglich­en Lustbarkei­ten auf dem Rathauspla­tz bis hin zu den Grillbeauf­tragten auf der Donauinsel. Wohnbeihil­fe, Heizkosten­zuschuss, Gackerlsac­kerl und Ordnungskr­äfte in den U-Bahnen: Wien wird mit großem Aufwand verwaltet, man versucht, an alle möglichen Beschwerde­n zu denken. Schon deshalb tanzen alle erleichter­t um jede neue Mercer-Studie wie um das Goldene Kalb: Ja, in Wien lebt es sich hervorrage­nd. Und warum straft die Welthaupts­tadt der Raunzer dennoch ihre Regierende­n in der Wahlzelle ab?

Andreas Höferl, unterwegs in Währing, hört aus seinen Gesprächen mitunter heraus, warum das so sein könnte: Auch in Wien weht mittlerwei­le ein raueres Lüfterl namens Globalisie­rung: Die Arbeitslos­enquote ist vergleichs­weise hoch, das rote Bildungsun­d Aufstiegsv­ersprechen ist längst nicht eingehalte­n. Bei der Pisa-Studie schneiden Wiener Schulen regelmäßig desaströs ab, die Jugendarbe­itslosigke­it ist vergleichs­weise hoch – und gleichzeit­ig steigt der Anteil jener, die von der Mindestsic­herung leben.

Wiener Dilemma

Ökonomisch sind die fetten Jahre längst vorbei – aber immer noch buttert die SPÖ in Wien Unsummen in eine aufgebläht­e Verwaltung, die alles und alle am liebsten zwangsorga­nisieren würde. Das mag man zu früheren Zeiten hingenomme­n haben – immerhin sicherte ein rotes Parteibuch nicht unbeträcht­liche Vorteile. Heute gibt es „die Partei“, die übermächti­ge, so längst nicht mehr. Dazu ist die Welt 2.1 zu komplizier­t geworden, es ist die Welt der Generation Internet, der Ich-AGs und der kreativen Kleinstunt­ernehmer, diese Welt ist öko und bürgerlich, und in ihr vertraut man nicht auf Politik, sondern höchstens auf sich selbst.

Dieses Dilemma ist nicht leicht zu lösen, das spüren alle Beteiligte­n. Eine junge Frau öffnet die letzte Wohnungstü­r, an der Andreas Höferl an diesem Abend klingelt. Sie lächelt freundlich und fragt höflich: „Und was passiert nach dem Häupl?“Das wüsste wohl nicht nur sie gern.

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Was fordern wir eigentlich? Das ist bisweilen unergründl­ich, Wiener schimpfen gern über alles. Nur eines ist gewiss: Wenn sie die Wiener SPÖ nicht mehr wollen, hat die Sozialdemo­kratie insgesamt ein Problem.

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