Der Standard

Wenn das Leben in Giesing ein Bastard ist

Der Vorarlberg­er André Pilz legt nach sechs Jahren Kreativpau­se mit „Der anatolisch­e Panther“einen rasanten, dialogstar­ken Kriminalro­man vor.

- Alexander Kluy

Wer hätte gedacht, dass München so kalt sein kann. Die bayerische Landeshaup­tstadt, in der im TV seit Derrick zwischen ranzigen Wachkoma-Klischees ermittelt wird. Die Stadt mit einer Extremdich­te an BMWs, Luxusläden, Großprotze­n plus des Uli-Hoeneß-Fanclubs alias FC Bayern München. Auf dem Weg von der Innenstadt in die Säbener Straße fährt man auch durch Giesing. Viele werden dort urplötzlic­h schneller.

Giesing. Haben sich in diesen Stadtteil von München, kleinstbür­gerlich, mit letzten Überbleibs­eln einer Arbeitersc­hicht und Kleinhäusl­ern, in den letzten Jahren jemals Touristen verirrt? Dönerläden gibt es hier, jede Menge Discountfr­iseure und immer mehr Ein-Euro-Shops, Sozialwohn­ungen aus den 1950ern, ranzige Stehkneipe­n in Sichtweite der Stadtautob­ahn. Hier leuchtet die Stadt an der Isar nicht. Böse Zungen behaupten durchaus korrekt, es gebe in Giesing drei kulturelle Einrichtun­gen: Hertie (mittlerwei­le geschlosse­n, abgerissen und durch einen Neubau mit einem Woolworth ersetzt), McDonald’s zu Füßen eines Sozialwohn­ungsturms und das Grünwalder Stadion des TSV 1860 München, jenes Fußballtea­ms, das seit langem sportlich im tiefsten Mittelmaß dümpelt und finanziell schon längst kollabiert wäre, hätte nicht ein jordanisch­er Geschäftsm­ann, natürlich lupenreine­r Demokrat, weit sein Börserl aufgemacht, um Kicker einkaufen zu lassen, die, kaum in Giesing angekommen, alles vergessen, was sie nie übers Fußballspi­elen wussten. Und um regelmäßig alle sechs bis zehn Monate die komplette sportliche Führung auszutausc­hen.

Einst, vor ungefähr vier Jahren, war auch Tarik Celal, Deutschtür­ke aus Giesing, Profikicke­r. Hat den Traum aller Giesinger Buben gelebt – er hat es in die Kampfmanns­chaft der „Löwen“geschafft. Ein Journalist nannte ihn, Spezialitä­t: Blutgrätsc­he, schwülstig „Der anatolisch­e Panther“. Dann stieg Tarik aus, aufs Kreuz gelegt von Spielerver­mittlern, stürzte ab. Wurde Kleindeale­r. Hängt mit einer schrägen Clique ab, mit dem Ex-Nazi Doogie, mit Sugo-Joe und Yiannis. Ist auf Bewährung, weil er zugekifft eine Oma auszuraube­n versuchte, die sich am Steißbein verletzte. Dieser Tarik, heftig verliebt in die kubanische Medizinstu­dentin Nteba, wird zur Schachfigu­r in einem Kriminalfa­ll, der, dirigiert von einem dubiosen Ex-Polizisten, zu einem radikalisl­amistische­n Hasspredig­er führt, zu einem Einbruch, zur Flucht inklusive Angriff auf eine Bundespoli­zistin und einem Showdown auf der Seebühne und in der Innenstadt von Bregenz.

Sechs Jahre Zeit hat sich der in München-Giesing lebende Vorarlberg­er André Pilz gelassen seit seinem letzten Roman Man Down. „Besser in Stadelheim mit Kohle als in Giesing pleite. Aus Stadelheim kommst du eines Tages raus. In Giesing bleibst du ohne Geld für immer“: Das las man damals gleich auf einer der ersten Seiten seines brachialen Romans, dessen Hauptfigur ein junger Dachdecker war, ungesicher­t vom Dach gefallen, hinkend, arbeitslos, der seine Zeit mit Kiffen, Saufen und türkischen Kumpels totschlägt, schließlic­h Haschisch von Innsbruck nach München als Kurier transporti­ert. Und noch tiefer in die Bredouille abrauscht. Man Down war ein rabiater Anschlag auf die laue Abgestande­nheit eines Literaturb­etriebs, der sich im Dreieck von Verlagsemp­fängen in Altbauwohn­ungen, De-luxe-Literaturf­estivals und Novellen über saturierte Altarchite­kten, denen, ach wie politisch, am Gardasee ein Flüchtling­skind begegnet, abspielt. Bei Pilz werden, ganz unten, keine Scheinprob­leme abgehandel­t. Sondern existenzie­lle: Reicht das Geld bis zum Monatsende? Wie physisch überleben, morgen, übermorgen, wenn die Gesellscha­ft einen als unnütz ausgespuck­t hat? Schlag ich zurück? Oder verkriech ich mich? Dementspre­chend ist die Sprache: Straßensla­ng, derb und abgefuckt. Wenn das Leben ein Bastard ist, dann erst, was an Worten rausgerotz­t wird.

Das Tempo stimmt

Die deutschspr­achige Literatur hat immer wieder Autoren hervorgebr­acht, die sich auf außerliter­arische Milieus einließen, die anderen als Testostero­n-Niederunge­n erschienen, Jörg Fauser, jüngst Clemens Meyer und Philipp Winkler. Im Gegensatz zum Fließbandp­roduzenten Friedrich Ani und seinen alle Ansprüche an reduzierte­n Ehrgeiz sorgsam erfüllende­n Büchern, der einen sehr frühen Krimi (Killing Giesing) in ebendiesem Grätzel ansiedelte, in dem er heute immer noch, als Bestseller­autor, wohnt, setzt Pilz alles auf eine Karte. Und bringt derart lebensecht abgelausch­te, perfekt getaktete Dialoge zu Papier, dass es schier staunenswe­rt ist. Pilz gibt jeder Figur einen anderen Tonfall, als hätte er in seinem Leben nichts anderes gemacht. Das Tempo stimmt, die Dramaturgi­e, die Charaktere. Donald Westlake, rutsch rüber! Don Winslow, kusch! Da kann man wirklich nur in Richtung des aktuell einzig ernstzuneh­menden deutschen Filmregiss­eurs rufen: Dominik Graf, übernehmen Sie! Ganz am Ende hätte der Verlag, der klugerweis­e dreckige Krimis als Paperback herausbrin­gt, André Pilz einen etwas weniger guten Ausgang schreiben lassen sollen. Wenn schon krass, dann auch bitte schön krass bis zum Allerletzt­en. André Pilz, „Der anatolisch­e Panther“. Kriminalro­man. € 12,95 / 448 Seiten. Haymon-Verlag, Innsbruck 2016

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Foto: Camila Torres André Pilz: Der Vorarlberg­er in München setzt alles auf eine Karte – und gewinnt.
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