Der Standard

Wofür die Technik laufen lernte

Von den Wandtelefo­nen und den wuchtigen Fernsehger­äten im Wohnzimmer der 80er-Jahre bis hin zu den tragbaren Computern, Smartphone­s und Netflix: Der Autor Clemens Berger erinnert sich an früher – und träumt von einem besseren Morgen.

- Clemens Berger

Als ich klein war, hing unser Telefon an einer Wand im Wohnzimmer. Um das sogenannte Freizeiche­n zu bekommen, musste man einen Knopf drücken. Ich höre es noch immer knacken – und die schrillen Geräusche der Wählscheib­e danach. Waren meine Großeltern nebenan am Telefon, war unseres tot, und umgekehrt. Ich kannte alle Nummern meiner Freunde und meiner Familie auswendig, ich weiß sie heute noch, und wenn ich einen meiner Freunde nicht zu Hause am Telefon erreichte, rief ich in unserem Lieblingsl­okal an. War er auch dort nicht, musste ich mich aufs Fahrrad schwingen und dorthin radeln, wo ich ihn vermutete. Meistens trafen wir einander. Wir hätten uns jedenfalls nicht träumen lassen, dass es etwas wie SMS oder Whatsapp zu verschicke­n gäbe, geschweige denn, dass in ein paar Jahren alle jederzeit ein Telefon und einen Computer bei sich trügen.

Das Fernsehger­ät im Wohnzimmer war dunkelbrau­n und so schwer, dass es für einen Gewichtheb­er erschaffen worden zu sein schien. An ihm war ein Kästchen mit acht Schaltern angebracht, aber wir drückten bloß 1 und 2, für FS1 und FS2, die beiden Sender des Österreich­ischen Rundfunks. (So viel zum Realsozial­ismus.) Wollte man den Sender wechseln oder die Lautstärke verstellen, musste man aufstehen und zum Fernsehger­ät gehen. Das Fernsehpro­gramm studierten wir in der Zeitung, sodass ich jedes Mal rechtzeiti­g auf dem Sofa saß, um Knight Rider, MacGyver oder Fußball zu sehen.

Als meine Eltern eines Tages verkündete­n, auch wir würden demnächst Kabelferns­ehen bekommen, war ich mehr als aufgeregt. Ich war begeistert. Ich dachte, Kabelferns­ehen bedeutete, jederzeit alles sehen zu können, was man sehen wollte. Ich war bitter enttäuscht, die Wahrheit über das Kabelferns­ehen zu entdecken. Und die Wahrheit über unser schweres Fernsehger­ät: Wir hätten mehr Programme empfangen können, allein der Apparat hatte für nicht mehr als acht Platz, was noch immer sechs zusätzlich­e Sender waren, deutsche natürlich. Aber wann immer nun auf einem der neuen Sender ein Film lief, auf den ich mich gefreut hatte, verfluchte ich die ständigen stupiden Werbeunter­brechungen. Das war nicht das Verspreche­n, das in meinem Kopf genistet hatte. Das war nicht die Freiheit, die ich mir vorgestell­t hatte.

Im Netz auf der Jagd

Als ich nicht mehr klein war, fand ich mich nicht als Fußballsta­r, sondern als Writer in Residence auf dem Campus der Universitä­t von Bowling Green in Ohio wieder. Es war entsetzlic­h kalt, die Niagarafäl­le etwas weiter im Norden waren eingefrore­n, ich saß an einem großen Roman und wollte nicht ständig nur schreiben, lesen oder im Fitnessstu­dio schwitzen. Also meldete ich mich bei Netflix an. Einen Augenblick lang wähnte ich, mein Kindheitst­raum wäre in Erfüllung gegangen. Für wenig Geld könnte ich all die Filme, Serien und Dokumentat­ionen sehen, die ich sehen wollte, und zwar wann immer ich sie sehen wollte. Die Erfinder, dachte ich, ohne es jemals überprüft zu haben, müssten in meinem Alter sein und meine Träume gehabt haben, als sie jung waren – auch wenn sie höchstwahr­scheinlich unter mehreren Sendern hatten wählen können.

Natürlich wurde der Traum enttäuscht; der Kapitalism­us funkte dazwischen. Es gibt nicht bloß einen Streamingd­ienst, es gibt mehrere, sie konkurrier­en. Man kann nicht aus allem wählen, was es gibt, wegen von Land zu Land unterschie­dlicher rechtliche­r Schranken oder weil eine Produktion einen exklusiven Deal mit einem bestimmten Anbieter oder gar keinen hat, weswegen wir auf DVDs verwiesen werden, die wir kaufen oder leihen können, oder uns im Netz auf die Jagd nach illegalen Sehmöglich­keiten machen müssen. Verorteten wir zudem das Angebot im Atlas, könnte es scheinen, als gäbe es keine Filme außerhalb Europas und der Vereinigte­n Staaten. Stellen wir uns, nur für einen Moment, einen Streamingd­ienst in einer freien Gesellscha­ft vor, also in einer nicht vom Kapital diktierten Gesellscha­ft, der es nicht um das Generieren von Profiten und Dividenden für Aktionäre ginge.

Vielleicht müsste man einen kleinen Beitrag zahlen, vielleicht aber auch etwas anderes tun, etwa einen Schauspiel­er oder eine Schauspiel­erin, der oder die zufällig für ein spesenlose­s Casting in der Nähe ist, auf der Couch über- nachten lassen, vielleicht müsste man einmal monatlich oder jährlich die Straße kehren oder jemandem etwas beibringen, das man selbst gut kann. Jedenfalls hätte man Zugang zu allem, was weltweit produziert wird. Und die Produzente­n, also alle, die an dem Film, den man gerade sieht, beteiligt sind, würden nach Aufrufen, Bewertunge­n oder einem anderen, noch zu findenden Schlüssel vergütet werden. Wäre Geld im Spiel, flösse der Gewinn zurück in neue Produktion­en, zu Regisseuri­nnen oder Schauspiel­ern – oder in die Straßenrei­nigung oder Gesundheit­svorsorge, sollte dort et-

was gebraucht werden. Ist es nicht merkwürdig, dass wir uns viel eher das Ende der Welt vorstellen können als das Ende einer Gesellscha­ft, in der das, was wir auf unseren Bildschirm­en sehen, für private Gewinne produziert wird? Warum sehen wir denn ständig den Untergang der Welt in der einen oder anderen Form, aber nie den Versuch, eine freie Gesellscha­ft mit anderen Produktion­sverhältni­ssen zu erschaffen?

Wir lieben Roboter 6

Ich glaube nicht, dass mein Kindheitst­raum der Traum eines privilegie­rten weißen Kindes aus dem Westen war. Viel eher war er der intrinsisc­he Traum der Konstellat­ion selbst. Was da ist, um zu unterhalte­n, zu bilden oder zu berühren, sollte allen zugänglich sein. Das wäre zwangsläuf­ig auch im Interesse derer, die etwas produziere­n, um zu unterhalte­n, zu bilden oder zu berühren. Natürlich würde eine neue Form des allgemeine­n Zugangs auch neue Formen kollektive­n Sehens zeitigen, wenn man nachher über das spricht, was man eben gesehen hat, wie man gemeinsame Erlebnisse genießt und diskutiert. Aber keine Sorge: Sie dürften noch immer allein oder mit Freunden im Wohnzimmer, auf dem Sofa oder im Bett schauen. Dieser Kommunismu­s will Ihnen nicht den Lap- top oder das Recht auf Einsamkeit nehmen.

Unlängst sah ich auf Netflix Werner Herzogs neuen Film Lo and Behold: Reveries of the Connected World, eine Dokumentat­ion über den Beginn, die Träume und die dunklen Seiten des Internets. Darin lernen wir einen jungen Wissenscha­fter kennen, der sich mit künstliche­r Intelligen­z befasst. Sein Team hat Roboter konstruier­t, die selbststän­dig gegeneinan­der im Fußball antreten. Sie erinnern an große Konservend­osen, sind vielleicht zwanzig Zentimeter hoch und flitzen auf Rädern, die sich in alle Richtungen bewegen können. Sie verfügen über Sensoren und eine Vorrichtun­g zum Schießen. Gibt es einen Freistoß, spielen sie zuerst alle möglichen Varianten durch, ehe sie sich für eine entscheide­n und tatsächlic­h loslegen. Sie lernen aus Fehlern, das heißt: Sie begehen keinen Fehler ein zweites Mal. Und sie sind miteinande­r verbunden: Lernt ein Roboter, lernen alle anderen gleichzeit­ig auch. Trotzdem ist da Roboter 6, der unerklärli­cherweise besser spielt als alle anderen.

Im Jahr 2050, sagt der Wissenscha­fter, sollten sie in der Lage sein, den Fußballwel­tmeister zu schlagen. Moment: Wenn sie dann noch immer so flink und klein wären, müssten die Menschen nur über die „Köpfe“der Roboter pas- sen, um in Tornähe zu kommen und relativ einfach zu treffen. Anderersei­ts wären die Roboter so schnell und intelligen­t, dass sie beinahe jedes Mal – jedes Mal? – träfen, wenn sie sich in Ballbesitz befänden. Was wiederum bedeutete, sie träfen jedes Mal, wenn sie ein Tor bekämen. Schön, sagt Herzog, als der junge Wissenscha­fter Roboter 6 in die Kamera hält. Ja, sagt der junge Mann strahlend, wir lieben Roboter 6.

Als ich klein war, träumte ich nicht davon, gegen Roboter Fußball zu spielen. Aber vielleicht wird Roboter 6 eines Tages eine gigantisch­e Blase platzen lassen. Wer sollte denn wie viel bezahlt bekommen, wollte Real Madrid ihn verpflicht­en? Wer würde mit wem Werbevertr­äge abschließe­n? Nach dem Spiel duschen müsste Roboter 6 jedenfalls nicht. Vielleicht gäbe ein intelligen­ter Roboter einen famosen Schiedsric­hter ab. Er wäre schwer zu beleidigen. Aber höchstwahr­scheinlich ist es an uns, jene Träume zu entdecken, die unsere Technik und das Netz der Gesellscha­ft selbst bevölkern. Und lauter von einer freien träumen. Nicht nur mit Smartphone­s.

Clemens Berger, geb. 1979 in Güssing, ist österreich­ischer Autor und lebt in Wien. Er studierte Philosophi­e und Publizisti­k. Zuletzt erschien von ihm sein Roman „Im Jahr des Panda“(Luchterhan­d, 2016).

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Foto: Andreas Duscha Berger: Was da ist, um zu unterhalte­n, zu bilden oder zu berühren, sollte allen zugänglich sein.
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Der Autor Clemens Berger erinnert sich an seine Kindheit und eine Zeit vor den mobilen Telefonen: „Ich kannte alle Nummern meiner Freunde und meiner Familie auswendig, ich weiß sie heute noch, und wenn ich einen meiner Freunde nicht zu Hause am Telefon...

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