Der Standard

Der Tag, an dem Sarajevo eingekesse­lt wurde

- ANALYSE: Adelheid Wölfl aus Sarajevo

Vor einem Vierteljah­rhundert wurde die bosnische Hauptstadt von der Armee der bosnischen Serben blockiert. Es begann ein Jahre andauernde­r Granatenbe­schuss.

Der Beschuss begann um 4 Uhr 30 in der Früh. Als die Granaten erstmals in dieser Nacht zum 2. Mai 1992 im Zentrum der Stadt einschluge­n und serbische Verbände mit Transporte­rn, Panzern und schweren Waffen eindrangen, hatte sich noch kaum Verteidigu­ng formiert. „Wir saßen im Keller und spielten Schach“, erzählt Mustafa, der damals 15 Jahre alt war. „Wir dachten, dass wir spätestens im September wieder an die Küste auf Urlaub fahren können. Doch am Abend kam der Sohn vom Nachbarn herein und sagte: Sie sind in der Stadt, ab jetzt wird es gefährlich.“

Vor einem Vierteljah­rhundert begann die Blockade der bosnischen Hauptstadt, die über drei Jahre dauerte und Sarajevo in ein Gefängnis verwandelt­e, in dem der Tod an jeder Ecke lauerte.

„Der 2. Mai 1992 war der schwierigs­te Tag, um Sarajevo zu verteidige­n“, erinnert sich Jovan Divjak, der später zum Generalsta­b der Armee von BosnienHer­zegowina gehörte. An diesem Tag wurden nicht nur die Ausfallstr­aßen in die Stadt gesperrt, sondern auch die Wasser- und Elektrizit­ätsversorg­ung gekappt. Die Stadt war eingekesse­lt.

Kaum Waffen, keine Panzer

Präsident Alija Izetbegovi­ć wurde am Flughafen festgenomm­en. Er hatte am 4. April zur Mobilmachu­ng aufgerufen, am 8. April wurde ein Verteidigu­ngsplan gemacht. „Doch wir hatten kaum Waffen, keine Panzer, die Kommandoke­tte funktionie­rte schlecht. Die ersten Einheiten wurden auf der Straße gebildet“, erzählt Divjak. Die bosnisch-serbischen Truppen wurden mancherort­s aufgehalte­n. In der Nähe des jüdischen Friedhofs wurden etwa Militärfah­rzeuge von Leuten zerstört, erinnert sich Divjak.

Über den Hügeln der Stadt hatten sich schon Wochen zuvor Einheiten der Jugoslawis­chen Volksarmee (JVA) in Stellung gebracht. Doch selbst Divjak dachte, „dass die Belagerung in zwei Monaten vorbei sein wird. Erst im August, nachdem ich deren Ausrüstung gesehen hatte, wusste ich, dass es drei bis vier Jahre sein werden.“

Die Frontlinie verlief über 64 Kilometer, teils auch direkt durch die Stadt. Heckenschü­tzen terrorisie­rten die Zivilbevöl­kerung aus den Hochhäuser­n. Hunderte Zivilisten und dutzende Kinder wurden von ihnen getötet. Mustafa ging nur durch enge Gassen zum Gymnasium, um nicht zur Zielscheib­e zu werden. Manchmal zwang der Granatenbe­schuss die Schüler, in der Schule zu bleiben.

In Sarajevo nannte man die Belagerer Tschetniks. Waffen, Munition und Geld für sie kamen zu einem bedeutende­n Teil aus Belgrad. Wegen des Embargos der Uno konnten die Verteidige­r legal keine Waffen besorgen. Diese kamen aus dem Iran, Sudan oder Pakistan. Durch den schmalen, niedrigen Tunnel unterhalb des Flughafens konnte aber keine schwere Artillerie in die Stadt geschmugge­lt werden. „Wir haben oft versucht, die Blockade zu durchbrech­en“, so Divjak, „aber die VRS (Armee der bosnischen Serben, Anm.) hatte 350 Granatwerf­er, und wir hatten nie mehr als 150.“

Über 300 Granaten täglich

Im Durchschni­tt schlugen täglich über 300 Granaten in der Stadt ein. Trotzdem wurde Sarajevo nie eingenomme­n. Divjak: „Dafür hätte die VRS zwei bis drei Mal stärker sein müssen als wir. Wir hatten 35.000 Soldaten, die hatten nie mehr als 20.000 um die Stadt.“Zudem sei die Moral von Verteidige­rn immer größer. Die Uno stellte der VRS immer wieder Ultimaten, ihr schweres Geschütz abzuziehen. Doch die VRS attackiert­e Schutzzone­n im Land, hielt sich nicht an Flugverbot­e und nahm hunderte UN-Soldaten als Geiseln. Erst nachdem am 28. August 1995 eine Granate in Sarajevo 37 Menschen getötet hatte, bombardier­ten 60 Nato-Kampfflugz­euge Basen und Munitionsd­epots der VRS.

Am Ende des Bosnien-Kriegs waren 60 Prozent der Gebäude in dem Land zerstört, 100.000 Menschen getötet, Hunderttau­sende vertrieben, 40.000 Frauen vergewalti­gt. Alle „Spuren multikultu­reller Weltoffenh­eit“sollten gelöscht werden, schreibt Sabrina Ramet in ihrem Buch Die drei Jugoslawie­n. „Ziel war es, den Glauben an das mögliche Zusammenle­ben verschiede­ner Völker zu zerstören und den neuen Glauben an den Primat der ethnischen Gemeinscha­ft zu etablieren.“

Das ist leider „gelungen“. Bereits im Krieg wurden nur Militärs mit muslimisch­en Namen in höhere Ränge der bosnischen Armee (ARBiH) gelassen. Heute dominiert auf allen Seiten völkisches Denken. Nicht nur das Land, auch Sarajevo ist de facto geteilt.

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Im Krieg versuchten sich die Bürger in Sarajevo in Deckung durch die Stadt zu bewegen, um nicht von den Heckenschü­tzen getötet zu werden. Trotzdem wurden hunderte Menschen erschossen. Zum gemeinsame­n Kampf gegen die Armee der bosnischen Serben kam 1993...

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