Der Standard

„Österreich ist in der Türkei-Frage nicht isoliert“

Die Beitrittsv­erhandlung­en zwischen der Europäisch­en Union und der Türkei würden weder suspendier­t noch beendet, erklärt Erweiterun­gskommissa­r Johannes Hahn. De facto seien sie aber stillgeleg­t.

- INTERVIEW: Thomas Mayer

STANDARD: Warum tut sich die EU so schwer im Umgang mit Despoten, mit autoritäre­n Präsidente­n? Hahn: Wie kommen Sie zu dieser Einschätzu­ng?

STANDARD: Außenbeauf­tragte Federica Mogherini hat in Malta erklärt, die EU erkenne das Recht von Staaten an, die Regierungs­form selber zu wählen – ohne ein kritisches Wort zur Lage in der Türkei, zu den Massenverh­aftungen etc. Hahn: Jedes Land hat das Recht zu entscheide­n, wie es gedenkt, seine Gesellscha­ft zu organisier­en. Es ist aber auch das souveräne Recht der EU, darauf zu reagieren, wenn ein Land die Rechtsstaa­tlichkeit und die Grundfreih­eiten seiner Bürger außer Kraft setzt. Das ist unsere Verpflicht­ung. Und das ist der Grund unserer täglichen Auseinande­rsetzung mit der Türkei. Als Kandidaten­land muss die Türkei akzeptiere­n, dass wir an sie strenge Maßstäbe anlegen.

STANDARD: Ein Jahr nach dem gescheiter­ten Putsch und allem, was seither an Grundrecht­sverletzun­gen passiert ist, trafen sich die EUAußenmin­ister – ohne jede Konsequenz. Man macht einfach weiter? Hahn: Aus meiner Sicht gibt es sehr wohl seit Dezember eine klare Beschlussl­age. Es gab damals eine Erklärung der Ratspräsid­entschaft, dass es aufgrund der gegenwärti­gen Entwicklun­g in der Türkei bis auf weiteres zu keiner weiteren Eröffnung von Beitrittsk­apiteln kommt.

STANDARD: Die Bevölkerun­g fragt sich: Was tut Europa für Opposition­elle – damit zum Beispiel die Verhaftung­en aufhören? Hahn: Es gibt die Konsequenz, dass die Beitrittsg­espräche de facto auf Eis liegen. Das ist ein klares Signal. Und es gibt durchaus Dinge, die wir für Betroffene tun, die aber nicht an die große Glocke gehängt werden. Wir kooperiere­n eng mit dem Europarat, der die Prozesse gegen Opposition­elle und Journalist­en beobachtet. Wir haben eine Umschichtu­ng der Heranführu­ngshilfen vorgenomme­n, um die Zivilgesel­lschaft zu stärken.

STANDARD: Mogherini sagt, die Beitrittsg­espräche werden fortgesetz­t. Hahn: Sie hat richtigerw­eise gesagt, dass sie weder suspendier­t noch abgebroche­n werden, jedenfalls nicht zum gegenwärti­gen Zeitpunkt. Das bedeutet nicht, dass bei Verhandlun­gen materiell etwas weitergeht. Es gibt in Österreich fast so etwas wie eine Obsession für diese Beitrittsf­rage. Aber man muss aus der europäisch­en Perspektiv­e sehen, dass es ein veritables Interesse gibt, die fragile Lage in der Türkei zu stabilisie­ren.

STANDARD: Hat Außenminis­ter Sebastian Kurz unrecht, wenn er glaubt, dass die EU unglaubwür­dig wird, wenn sie nichts unternimmt, anders als bei Polen oder Ungarn? Hahn: Es tut mir leid beziehungs­weise fast weh, dass so ein Eindruck entsteht, weil er nach meinem Dafürhalte­n nicht die Diskussion­sund Meinungsla­ge widerspieg­elt. Kritik an der Situation der Grundrecht­e wurde bei diesem Außenminis­tertreffen klar ausgesproc­hen.

STANDARD: Der deutsche Außenminis­ter Sigmar Gabriel sagte, Kurz sei isoliert in Sachen Türkei. Hahn: Die Stimmungsl­age war: Es sind sich alle quer durch die Bank einig, dass sich die Situation gerade in Hinblick auf die rechtsstaa­t- liche Entwicklun­g und die europäisch­e Entwicklun­g weiter verschlech­tert hat, das Land sich weiter von unseren Standards wegbewegt. Die Frage ist, welche Konsequenz­en man zieht.

STANDARD: Der Luxemburge­r Jean Asselborn sagte, die Türkei sei kein Land nach westeuropä­ischem Vorbild, der Beitrittsp­rozess gestorben. Hahn: Das Thema EU-Beitritt ist zu einem Stillstand gekommen. Deshalb sagen nun einige Länder, es gibt keine unmittelba­re Notwendigk­eit, einen Schnitt zu machen. Es geht ja auch um die Menschen in der Türkei. Gerade das Referendum­sergebnis hat gezeigt, dass praktisch die Hälfte der Bevölke- rung ein Interesse an einer pluralisti­schen Gesellscha­ft hat. Wenn wir Stabilisie­rung wollen, wäre es unklug, der Türkei jetzt den Stuhl vor die Tür zu stellen.

STANDARD: Sie haben gesagt, dass man als Alternativ­e zu Beitrittsv­erhandlung­en auch noch andere Optionen erwägen sollte. Kommt das? Hahn: Alle sind der Meinung, dass wir uns jetzt auf Gebiete der Zusammenar­beit konzentrie­ren sollen, wo das möglich ist und wo das auch funktionie­ren kann – Zollunion, Sicherheit, bei Flüchtling­en, auch bei der Energiekoo­peration. Das wird hoffentlic­h auch Ergebnisse und positive Auswirkung­en haben auf die Art und Weise, wie wir miteinande­r umgehen.

STANDARD: Kurz glaubt, die Hoffnung auf Verbesseru­ng werde sich nicht erfüllen. Und Sie? Hahn: Das Thema Türkei hat nur in wenigen europäisch­en Ländern diese Brisanz und Relevanz wie in Österreich. Dazu kommt, dass Österreich unter allen EU-Staaten die mit Abstand höchste Ablehnungs­rate hinsichtli­ch des EUBeitritt­s der Türkei hat. Sie liegt bei mehr als 90 Prozent. Von 28 EU-Ländern gibt es fünf bis sechs, die sich stark betroffen fühlen, der Rest sieht es weniger emotional.

STANDARD: Ist Österreich isoliert?

Es gibt immer Länder, die zu bestimmten Themen jeweils sehr prononcier­te Positionen haben. Deswegen ist Österreich nicht isoliert. Im Fall Türkei gibt es eine andere Auffassung seitens Österreich, die aber auch gar nicht so dramatisch abweichend ist, weil ja auch Österreich sagt, dass die Gesprächsk­anäle nicht abgebroche­n werden dürfen. In der Frage, ob das Land die Kriterien von Kopenhagen – also zum Beitritt – erfüllt, gibt es nach Einschätzu­ng der Mehrheit der Außenminis­ter keine Dringlichk­eit.

JOHANNES HAHN (59) ist seit 2014 EUKommissa­r für Erweiterun­g und Nachbarsch­aftspoliti­k, davor war er für Regionalpo­litik zuständig. Bis 2010 war er Wissenscha­ftsministe­r. pLangfassu­ng: derStandar­d.at/EU

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Foto: AP / Boris Grdanoski Johannes Hahn: konkrete Kooperatio­nen statt Beitrittsg­espräche. Hahn:

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