„Österreich ist in der Türkei-Frage nicht isoliert“
Die Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei würden weder suspendiert noch beendet, erklärt Erweiterungskommissar Johannes Hahn. De facto seien sie aber stillgelegt.
STANDARD: Warum tut sich die EU so schwer im Umgang mit Despoten, mit autoritären Präsidenten? Hahn: Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
STANDARD: Außenbeauftragte Federica Mogherini hat in Malta erklärt, die EU erkenne das Recht von Staaten an, die Regierungsform selber zu wählen – ohne ein kritisches Wort zur Lage in der Türkei, zu den Massenverhaftungen etc. Hahn: Jedes Land hat das Recht zu entscheiden, wie es gedenkt, seine Gesellschaft zu organisieren. Es ist aber auch das souveräne Recht der EU, darauf zu reagieren, wenn ein Land die Rechtsstaatlichkeit und die Grundfreiheiten seiner Bürger außer Kraft setzt. Das ist unsere Verpflichtung. Und das ist der Grund unserer täglichen Auseinandersetzung mit der Türkei. Als Kandidatenland muss die Türkei akzeptieren, dass wir an sie strenge Maßstäbe anlegen.
STANDARD: Ein Jahr nach dem gescheiterten Putsch und allem, was seither an Grundrechtsverletzungen passiert ist, trafen sich die EUAußenminister – ohne jede Konsequenz. Man macht einfach weiter? Hahn: Aus meiner Sicht gibt es sehr wohl seit Dezember eine klare Beschlusslage. Es gab damals eine Erklärung der Ratspräsidentschaft, dass es aufgrund der gegenwärtigen Entwicklung in der Türkei bis auf weiteres zu keiner weiteren Eröffnung von Beitrittskapiteln kommt.
STANDARD: Die Bevölkerung fragt sich: Was tut Europa für Oppositionelle – damit zum Beispiel die Verhaftungen aufhören? Hahn: Es gibt die Konsequenz, dass die Beitrittsgespräche de facto auf Eis liegen. Das ist ein klares Signal. Und es gibt durchaus Dinge, die wir für Betroffene tun, die aber nicht an die große Glocke gehängt werden. Wir kooperieren eng mit dem Europarat, der die Prozesse gegen Oppositionelle und Journalisten beobachtet. Wir haben eine Umschichtung der Heranführungshilfen vorgenommen, um die Zivilgesellschaft zu stärken.
STANDARD: Mogherini sagt, die Beitrittsgespräche werden fortgesetzt. Hahn: Sie hat richtigerweise gesagt, dass sie weder suspendiert noch abgebrochen werden, jedenfalls nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Das bedeutet nicht, dass bei Verhandlungen materiell etwas weitergeht. Es gibt in Österreich fast so etwas wie eine Obsession für diese Beitrittsfrage. Aber man muss aus der europäischen Perspektive sehen, dass es ein veritables Interesse gibt, die fragile Lage in der Türkei zu stabilisieren.
STANDARD: Hat Außenminister Sebastian Kurz unrecht, wenn er glaubt, dass die EU unglaubwürdig wird, wenn sie nichts unternimmt, anders als bei Polen oder Ungarn? Hahn: Es tut mir leid beziehungsweise fast weh, dass so ein Eindruck entsteht, weil er nach meinem Dafürhalten nicht die Diskussionsund Meinungslage widerspiegelt. Kritik an der Situation der Grundrechte wurde bei diesem Außenministertreffen klar ausgesprochen.
STANDARD: Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel sagte, Kurz sei isoliert in Sachen Türkei. Hahn: Die Stimmungslage war: Es sind sich alle quer durch die Bank einig, dass sich die Situation gerade in Hinblick auf die rechtsstaat- liche Entwicklung und die europäische Entwicklung weiter verschlechtert hat, das Land sich weiter von unseren Standards wegbewegt. Die Frage ist, welche Konsequenzen man zieht.
STANDARD: Der Luxemburger Jean Asselborn sagte, die Türkei sei kein Land nach westeuropäischem Vorbild, der Beitrittsprozess gestorben. Hahn: Das Thema EU-Beitritt ist zu einem Stillstand gekommen. Deshalb sagen nun einige Länder, es gibt keine unmittelbare Notwendigkeit, einen Schnitt zu machen. Es geht ja auch um die Menschen in der Türkei. Gerade das Referendumsergebnis hat gezeigt, dass praktisch die Hälfte der Bevölke- rung ein Interesse an einer pluralistischen Gesellschaft hat. Wenn wir Stabilisierung wollen, wäre es unklug, der Türkei jetzt den Stuhl vor die Tür zu stellen.
STANDARD: Sie haben gesagt, dass man als Alternative zu Beitrittsverhandlungen auch noch andere Optionen erwägen sollte. Kommt das? Hahn: Alle sind der Meinung, dass wir uns jetzt auf Gebiete der Zusammenarbeit konzentrieren sollen, wo das möglich ist und wo das auch funktionieren kann – Zollunion, Sicherheit, bei Flüchtlingen, auch bei der Energiekooperation. Das wird hoffentlich auch Ergebnisse und positive Auswirkungen haben auf die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen.
STANDARD: Kurz glaubt, die Hoffnung auf Verbesserung werde sich nicht erfüllen. Und Sie? Hahn: Das Thema Türkei hat nur in wenigen europäischen Ländern diese Brisanz und Relevanz wie in Österreich. Dazu kommt, dass Österreich unter allen EU-Staaten die mit Abstand höchste Ablehnungsrate hinsichtlich des EUBeitritts der Türkei hat. Sie liegt bei mehr als 90 Prozent. Von 28 EU-Ländern gibt es fünf bis sechs, die sich stark betroffen fühlen, der Rest sieht es weniger emotional.
STANDARD: Ist Österreich isoliert?
Es gibt immer Länder, die zu bestimmten Themen jeweils sehr prononcierte Positionen haben. Deswegen ist Österreich nicht isoliert. Im Fall Türkei gibt es eine andere Auffassung seitens Österreich, die aber auch gar nicht so dramatisch abweichend ist, weil ja auch Österreich sagt, dass die Gesprächskanäle nicht abgebrochen werden dürfen. In der Frage, ob das Land die Kriterien von Kopenhagen – also zum Beitritt – erfüllt, gibt es nach Einschätzung der Mehrheit der Außenminister keine Dringlichkeit.
JOHANNES HAHN (59) ist seit 2014 EUKommissar für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik, davor war er für Regionalpolitik zuständig. Bis 2010 war er Wissenschaftsminister. pLangfassung: derStandard.at/EU