Der Standard

Wut und Ratlosigke­it in Brasilien

Präsident Michel Temer will sein Reformpake­t trotz heftiger Proteste durchziehe­n

- Susann Kreutzmann aus São Paulo

Brennende Busse, eingeschla­gene Scheiben von Banken und Geschäften. Die Polizei feuert Gummigesch­oße ab. Die Luft ist diesig von Qualm und Tränengas. Im brasiliani­schen TV sind diese bürgerkrie­gsähnliche­n Bilder nach dem ersten großen Generalstr­eik seit 21 Jahren zu sehen. Dabei ging es um viel mehr. Knapp 40 Millionen Menschen demonstrie­rten am Freitag im ganzen Land großteils friedlich gegen die Einschnitt­e bei Sozial- und Arbeitnehm­errechten der konservati­v-liberalen Regierung von Präsident Michel Temer. In São Paulo und Rio de Janeiro stand das öffentlich­e Leben still: Busse und Metro fuhren nicht, Schulen und öffentlich­e Einrichtun­gen waren geschlosse­n.

Für Temer – gegen acht seiner Minister wird wegen Korruption ermittelt – ist dies der bisherige Tiefpunkt einer alles andere als gelungenen achtmonati­gen Präsidents­chaft. Er steht mit dem Rücken zur Wand: Auch er soll Schmiergel­dzahlungen erhalten haben. Bisher schützt ihn seine Immunität vor Ermittlung­en.

Expräsiden­t Lula profitiert

Als Sieger dieser Massenmobi­lisierung kann sich Expräsiden­t Luiz Inácio Lula da Silva (2003 bis 2010) feiern lassen. Obwohl gegen den Linkspolit­iker fünf Korruption­sverfahren laufen, erlebt Brasiliens Volkstribu­n derzeit eine Renaissanc­e. Fast vergessen scheint die Enttäuschu­ng vieler seiner Anhänger, als vor einem Jahr Korruption­s- und Geldwäsche­vorwürfe gegen ihn laut wurden. Heute wird der 70-Jährige beim Volk als Hoffnungst­räger angesehen, der Brasilien aus der lähmenden Rezession herausführ­en kann. Und wieder einmal trifft er genau ins Herz der Massen. „Es gibt keine andere Möglichkei­t, als den Kampf fortzuführ­en“, ruft er beim Generalstr­eik aus. Die Regierung wolle die Arbeitnehm­er „zurück in die Sklaverei“führen. In neuesten Umfragen führt Lula die Liste der potenziell­en Kandidaten für Neuwahlen haushoch mit 29 Prozent an.

Temer will die Staatsausg­aben für 20 Jahre einfrieren, wovon besonders Gesundheit­s- und Bildungspr­ogramme betroffen sind. Das Pensionsan­trittsalte­r soll erhöht und die Altersbezü­ge gekürzt werden. Auf dem Arbeitsmar­kt sollen Outsourcin­g und Leiharbeit erleichter­t, die Arbeitszei­ten verlängert und das Mitsprache­recht der Gewerkscha­ften eingeschrä­nkt werden. Die Reformen werden derzeit im Kongress beraten. Temer weiß um seine niedrige Popularitä­t und sieht sie als Vorteil an, um die Pläne durchzuzie­hen. Jeglichen Dialog mit den Gewerkscha­ften lehnt er ab.

Hohe Arbeitslos­igkeit

Der 76-jährige Temer war im September nach der umstritten­en Amtsentheb­ung der linksgeric­hteten Präsidenti­n Dilma Rousseff mit dem Verspreche­n angetreten, die Korruption zu bekämpfen und Lateinamer­ikas größte Volkswirts­chaft aus der Krise zu führen. Inzwischen sind alle Illusionen auch bei seinen Anhängern verpufft. In der vergangene­n Woche erreichte die Arbeitslos­igkeit mit 13,7 Prozent einen neuen Rekord.

„Die Brasiliane­r sind hochgradig unzufriede­n mit der Politik. Deshalb werden die Proteste und Massendemo­nstratione­n weitergehe­n“, sagt die Politikwis­senschafte­rin Ana Paula de Macedo Soares. Allerdings bestehe auch die Gefahr von sozialen Unruhen wie im Nachbarlan­d Venezuela. „Brasilien ist, wenn sich nichts ändert, davon nicht weit entfernt.“

Immer öfter werden vorgezogen­e Neuwahlen als Ausweg aus der politische­n Krise debattiert. Temer, der sich nie einer Wahl stellen musste, würde regulär bis Ende 2018 im Amt bleiben.

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Foto: AFP / Yasuyoshi Chiba Militärpol­izei im Einsatz gegen Demonstran­ten in Rio de Janeiro.

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