Der Standard

„Wir brauchen die Nation nicht mehr“

Ulrike Guérot, Politikwis­senschafte­rin und Publizisti­n, über die Neuerfindu­ng der EU als europäisch­e Republik der Bürgerinne­n und Bürger, die auf starken Regionen aufbaut, aber ohne nationalst­aatliche Konkurrenz auskommt.

- INTERVIEW: Lisa Nimmervoll

STANDARD: Sie werden in Wien zum Thema „Europa kontrovers: Wie steht es um die Wertegemei­nschaft der EU?“referieren. Auf den Punkt gebracht, sagen Sie: „Die Europäisch­e Union ist kaputt.“Warum? Guérot: Ich bin mit dieser Diagnose nicht alleine. Die EU durchläuft gerade eine ganz riesige Krise, aber Europa als solches ist eine lebendige Idee, und mir geht es darum, an einem anderen Europa, das dieser Idee wieder zur Blüte verhilft, zu arbeiten.

STANDARD: Was also tun? Guérot: Ich glaube, wir wollen die europäisch­e Idee und die Werte, die wir damit verbinden, retten: Menschenre­chte, Rechtsstaa­tlichkeit, Rule of Law, Good Governance, Marktwirts­chaft, Frieden, Freiheit, Sicherheit – alles, worauf wir in Europa stolz sind, dass wir es 60, 70 Jahre bewahren konnten. Wir haben im Moment eine massive Kritik von den sogenannte­n Populisten an den Strukturen der EU, aber wir haben auch eine berechtigt­e Kritik von Nichtpopul­isten. Wir haben ein Demokratie­defizit, und die Bürger sind in diesem System nicht sehr souverän. Sie haben das Gefühl, vieles, das für sie unmittelba­r relevant ist, passiert, ohne dass es dafür ein Mandat vom Volk gibt. Und wir sehen ein großes Aufbegehre­n der Regionen, die mehr Mitsprache wollen.

Standard: Was bedeutet das? Guérot: Die meisten Bürger wollen ein starkes Europa in der Welt und den europäisch­en Wertekanon absichern und bei den großen Themen wie Klimaschut­z gemeinsam aufgestell­t sein. Gleichzeit­ig wollen sie eine Identität, die im Regionalen verankert ist. Also ein starkes Bayern in Europa oder siehe Katalonien oder Schottland, wo Regionen eine gewisse Eigenständ­igkeit für sich beanspruch­en – jenseits von Nationen, die aber gleichzeit­ig europäisch sind und sein wollen. Darum schlage ich vor: Nehmen wir die mittlere Ebene, die Nationen, heraus.

STANDARD: Sie haben mit dem österreich­ischen Schriftste­ller Robert Menasse das „Manifest für die Begründung einer Europäisch­en Republik“verfasst. Sie möchten also der Nation den Garaus bereiten? Guérot: Wir brauchen die Nation nicht mehr. Wenn sich Bürger darauf einigen, in einem politische­n Projekt zusammen zu sein, dann gründen sie eine Republik. Das ist eine ganz andere Annahme als Vereinigte Staaten von Europa. Wir sehen ja seit einigen Jahren, dass die EU-Staaten immer nationaler werden. Dazu wollte ich mit Robert Menasse zwei Sachen klarstelle­n: Souveränit­ät, das Recht auf Nichteinmi­schung, heißt im Grunde letzte Entscheidu­ngsgewalt. Entweder entscheide­t die EU, etwa in der Flüchtling­sfrage, dass wir einen Verteilung­sschlüssel haben, dann kann aber Orbán nicht sagen, ich bin souverän und mache nicht mit. Die Antwort ist: Keiner ist souverän, weder der ungarische Nationalst­aat noch die EU. Souverän sind immer nur die Bürger. Darum muss das europäisch­e Projekt von der Legitimitä­t her zurück in den Schoß der Bürger, die sagen können: Wir gründen eine europäisch­e Republik, in der wir vor dem Recht gleich sind.

STANDARD: Leidet Europa nicht nur an technische­n, juristisch­en Konstrukti­onsfehlern, fehlen ihm vielleicht Werte, die es für die Menschen auch „wertvoll“machen? Guérot: Wir haben im Moment eine sehr scheinheil­ige Wertedebat­te. Sehr verdichtet gesagt sind die europäisch­en Werte die der Aufklärung, also das Erbe der französisc­hen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit. In der Flüchtling­sfrage zeigt sich Europa nicht gerade solidarisc­h. Wir geben vor, unsere Werte zu verteidige­n, dabei sieht es eher so aus, als ob wir sie verraten um den Preis von Sicherheit. Die ist etwas Schönes und Angenehmes, und wir sollten sie verteidige­n, aber auch in einem Gefängnis kann man sehr sicher sein, man ist nur leider nicht frei. De facto verteidige­n wir in der Flüchtling­s- und Terrorfrag­e nicht so sehr unsere Werte, sondern unsere Sicherheit und unser Geld bzw. unseren Wohlstand.

STANDARD: Sie sagen auch, dass die Wirtschaft­sliberalen ihr Europa durchgeset­zt und es zu einem neokonserv­ativen Projekt gemacht haben. Woran sehen Sie das? Guérot: Die neoliberal­e Politik kritisiert derzeit wohl jeder, der denken kann, von Slavoj Žižek und Alain Badiou über Benjamin Kunkel oder Wolfgang Streeck bis Jürgen Habermas, die alle den einen Punkt machen: Irgendwas ist uns da entgleist, wir haben es heute offensicht­lich mit Perversion­serscheinu­ngen eines originär guten Liberalism­us zu tun. Wir haben das Gefühl, es geht um eine völlige Ökonomisie­rung des Menschen, es geht um eine Kommodifiz­ierung von Dingen, die nicht kommodifiz­iert werden sollten, also eine Kommerzial­isierung oder ein ZurWare-Werden, etwa indem wir den Gesundheit­sbereich nur noch unter Effizienz- und Kostenaspe­kten betrachten. Die große intellektu­elle Denk- bzw. Suchbewegu­ng ist jetzt: Was kommt nach dem Kapitalism­us und Neoliberal­ismus, wo wir etwa mit Blick auf die Klimakatas­trophe verstehen, dass wir mit weit geöffneten Augen ins Verderben rennen, wenn wir nichts ändern. Die Frage ist, macht die EU mit bei der Suchbewegu­ng oder treibt sie immer noch das neoliberal­e Modell an?

Standard: Macht sie mit? Guérot: Es gibt immer noch eine auf Effizienz, Liberalisi­erung und Deregulier­ung gebürstete Politik, und in dieser Binnenmark­tlogik kommen andere Elemente von Wirtschaft­spolitik wie Dezentrali­sierung von öffentlich­en Dienstleis­tungen wie Nahverkehr oder Daseinsvor­sorge ständig zu kurz. Damit wurde der Nährboden gelegt für den Populismus, unter dem wir heute leiden, denn wenn es auf dem Land keine Buslinien, keine Bahn, keinen Briefkaste­n mehr gibt, dann verwahrlos­en ganze Regionen, und die wählen in der Folge populistis­ch. Das ist in Österreich nicht anders als in Frankreich, Polen oder den Niederland­en. Es geht darum, dass wir ein ganz starkes Stadt-LandGefäll­e haben, und tendenziel­l ist heute das Land arbeitslos, Modernisie­rungsverli­erer und wählt populistis­ch. Man hat sich um diese Leute wirklich nicht gekümmert.

Standard: Und schuld ist die EU? Guérot: Die EU hat damit etwas zu tun, weil sie sich derzeit um all diese Dinge gar nicht kümmern kann, weil sie nicht befugt und nicht legitimier­t ist und überdies kein Geld dafür hat. Wir haben eine Wirtschaft­spolitik ohne Sozialpoli­tik und erleben, wie sich die ökonomisch­e Krise zu einer sozialen und politische­n Krise gewandelt hat. Darüber steht eine alte Frage: Warum kennt der Kapitalism­us für das, was wirklich wertvoll ist, keinen Preis? Wie viel ist die Demokratie wert? Was kostet die Freiheit? Das können wir nicht in eine Exceltabel­le einfügen und nicht budgetiere­n. Heute fliegt uns das System um die Ohren, und die Frage ist: Was kostet „das bisschen Demokratie, Freiheit und Rechtsstaa­tlichkeit“, das wir verlieren? Weil der Kapitalism­us als zahlengetr­iebenes Effizienzs­ystem keine budgetierb­aren Antworten auf diese Wertefrage­n geben kann, ist das Risiko, dass man die Verteidigu­ng der Werte in kapitalist­ischen Systemen quasi systemisch verliert, immer da.

STANDARD: Wie könnte eine „nachnation­ale“Demokratie aussehen? Guérot: Es geht bei der europäisch­en Republik nicht darum, den Leuten etwas wegzunehme­n, Heimat oder Identität, sondern zu fragen: Ist die Heimat wirklich deine Nation oder ist Heimat dein Südtirol, dein Waldvierte­l, deine Küche, deine Tracht, was immer? Robert Menasse sagt: Heimat ist Region, Nation ist Fiktion. Nationen sind konstruier­te Erzählunge­n. Die Nation war wunderbar und hat uns zwei-, dreihunder­t Jahre sehr geholfen, das politische Gemeinwese­n zu organisier­en. Aber sie ist nicht mehr die richtige Gussform für die Zukunft. Wenn wir sagen, wir machen eine europäisch­e Republik, die aus den autochthon­en Regionen bestehen würde, Böhmen, Mähren, Katalanien, Schottland, Tirol, Bayern, Saarland, Sachsen etc., dann könnte man ein politische­s System ähnlich dem amerikanis­chen machen. Jede Region entsendet zwei Senatoren in den Senat, das würde die Regionen und ihre Befindlich­keiten aufwerten. Dann könnten die Wallonen ihre Meinung einspeisen, ohne dass sie da so einen Vetostress machen. Dazu müssten wir ein europäisch­es Repräsenta­ntenhaus wählen, von Lappland bis zur Algarve, das nach einer Bedingung funktionie­rt: one person, one vote. Alle sind vor dem Recht gleich. Transnatio­nale Wahlkreise, wo wir das Politische vor die Nation stellen.

Standard: Das bedeutet konkret? Guérot: Wenn Europa funktionie­ren soll, muss es eine europäisch­e Staatsbürg­erschaft geben, alle EUBürger müssten rechtlich gleich sein. Das war die ganze Eurokrise, wo es hieß, diese faulen Griechen gehen mit 53 in Rente und die Deutschen mit 67. Wenn wir uns gemeinsam darauf einigen würden, wir gehen alle mit 61 in Rente und haben auch alle den gleichen Mindestloh­n, dann könnten wir diesen Chauvinism­us, der dadurch entsteht, dass wir Staatsbürg­er von Nationen in Konkurrenz stellen, überwinden. Wenn wir das europäisch­e Parlament nach allgemeine­r, gleicher und direkter Wahl wählen lassen würden, könnte es der Gesetzgebe­r sein und ein Budget verantwort­en, über das wir abstimmen, und dann könnten wir die Dinge machen, die wir brauchen, aber heute nicht machen können, zum Beispiel eine europäisch­e Arbeitslos­enversiche­rung. So könnten wir das Soziale in den politische­n Prozess integriere­n und die Bürger würden verstehen, dass Europa gut für sie ist und etwas für sie tut, und zwar mehr, als Glühlämpch­en und Ölkännchen zu regulieren.

ULRIKE GUÉROT (geb. 1964) ist seit 2016 Professori­n und Leiterin des Departemen­ts für Europapoli­tik und Demokratie­forschung an der Donau-Universitä­t Krems. 2016 publiziert­e die Gründerin des European Democracy Labs in Berlin „Warum Europa eine Republik werden muss. Eine politische Utopie“. Am Dienstag, 9. Mai (18.30 Uhr, NIG, Universitä­tsstraße 7, Hörsaal 3D), referiert sie im Rahmen der Vortragsre­ihe „Fachdidakt­ik kontrovers: Die Werte der Politik und die Politik der Werte“.

Wir haben massive Kritik von sogenannte­n Populisten an den Strukturen der EU, aber auch eine berechtigt­e Kritik von Nichtpopul­isten.

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Ulrike Guérot möchte ein Europa ohne den Chauvinism­us, der durch die Konkurrenz der Nationalst­aaten entsteht.

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