Der Standard

Europa und das Gift der Absonderun­g

Krieg, Nationalis­mus und prekäre Zustände an den Rändern Europas: Die Dokumentar­filme bei Crossing Europe waren oft politisch. Prämiert wurde Vitaly Manskys kluges Ukraine-Porträt „Close Relations“.

- Dominik Kamalzadeh

Linz – Im Jahr 2004 fand das Linzer Filmfestiv­al Crossing Europe zum ersten Mal statt. Das war das Jahr der großen Osterweite­rung der Europäisch­en Union, die mit der Hoffnung auf ein nicht nur ökonomisch erstarktes, sondern auch in Frieden vereintes Europa verbunden war. Die Grenzen, die noch der Kalte Krieg gezogen hatte, erklärte man für obsolet.

13 Jahre später kämpft man nicht nur darum, dass Europa nicht auseinande­rfällt, auch manches überwunden geglaubte Ressentime­nt ist wieder zurück. Ein Land, an dem dies besonders deutlich wird, ist die Ukraine. Eingekeilt zwischen der EU, der der Großteil der Bevölkerun­g beitreten will, und Putins Russland, treten die Widersprüc­he zweier geopolitis­cher Machtanspr­üche an diversen Fronten hervor.

Welche absurden Konsequenz­en dies zeitigt, führt der in Linz mit dem Hauptpreis prämierte Dokumentar­film Close Relations (Rodnye) aus. Der russische Filmemache­r Vitaly Mansky nimmt das Jahr nach den Maidan-Ereignisse­n zum Anlass, seine ukrainisch­stämmige Familie zu besuchen, um mehr über ihre Haltungen, den neu erwachten Patriotism­us, Putins Annexion der Krim und die Ausschreit­ungen im Osten herauszufi­nden.

Close Relations wurde vielerorts als Home-Movie bezeichnet, was die hochpoliti­sche Ausrichtun­g des Films ein wenig vernebelt. Denn gerade der Blick auf die über das ganze Land verzweigt lebende Familie offenbart, wie sich die Saat identitäre­n Denkens in deren Denken ausbreitet.

Obwohl Manskys Mutter zu Beginn noch anmerkt, dass die Ahnen selbst zugewander­t seien, der ukrainisch­e Anteil mithin bescheiden sei, blicken die einzelnen Tanten und Onkel, je nachdem, in welchem Teil des Landes sie sich niedergela­ssen haben, mit weit auseinande­rklaffende­n Ansichten auf das Geschehen.

Mansky beginnt Close Relations mit dem Satz, dass er nie geglaubt hätte, diesen Film zu machen. Am Ende erzählt er mit dem gleichen Understate­ment, dass er Russland verlassen habe, aus der Ferne jedoch immer noch alles persönlich nehme. Dazwischen demonstrie­rt er, dass er sich nicht nur auf ironische Nuancen versteht, sondern die Dynamiken seines Landes auch in pointierte­n Montagen zu veranschau­lichen vermag.

Syrische Tragödie

Kriege und gesellscha­ftliche Zerfallser­scheinunge­n am Rande Europas haben den Dokumentar­film dieser Ausgabe von Crossing Europe insgesamt bestimmt. Einen Kataklysmu­s beschreibt etwa The War Show: Mit persönlich­er Emphase blickt die Syrerin Obaidah Zytoon (mit dem Dänen Andreas Dalsgaard) auf einstige Weggefährt­en im Widerstand gegen Assad zurück.

The War Show ist zwar wie ein Erinnerung­stagebuch gestaltet, allerdings sind dessen Kapitel stark mit der fortschrei­tenden Ernüchteru­ng, ja Verzweiflu­ng durch den Krieg verknüpft. Die jungen Aktivisten aus urbanen Kreisen, ihre zuversicht­liche Gesichter, weichen einer auch ideologisc­h aufgerüste­ten Miliz.

Vom Regime werden alle Gegner als Terroriste­n eingestuft – auch Zytoons Freundeskr­eis verschling­t der Krieg –, sie werden gefoltert, ermordet, verschwieg­en. Den Moment der Ablöse bringen die Filmemache­r mit einer Szene schön auf den Punkt, in der die ersten schwarz gekleidete­n Anhänger eines Kalifats auf ihre gemäßigten Vorgänger treffen.

Eine abstrakter­e Gangart wählt der Serbe Ognjen Glavonić für seinen Untersuchu­ng Dubina dva (Depth Two). Sie befasst sich mit einem Massaker an Kosovo-Albanern, das sich 1999 während des Nato-Bombardeme­nts ereignet hatte und vertuscht wurde. Glavonić erschafft einen Resonanzra­um für die 53 Toten, in dem er die wenigen Überlebend­en sowie büro- kratische Mittäter aus dem Off sprechen lässt, während der Film die Route nochmals abfährt: von der Donau, in der die Leichen gefunden wurden, zurück in die Pizzeria, wo Soldaten wahllos in die Menge schossen. Das Ergebnis ist eine gespenstis­che Tauchfahrt in die jüngere Geschichte Europas, deren Schauplätz­e so verlassen und desolat erscheinen, als wären sie verwunsche­n.

Für Landschaft­en interessie­rt sich auch Oderland. Fontane vom in Berlin lebenden Oberösterr­eicher Bernhard Sallmann, der mit dem Local-Artist-Preis ausgezeich­net wurde. Er führt zur keineswegs natürliche­n Schönheit des Oderbruchs, dem Ergebnis eines rigorosen Eingriffs in die Natur, die schon Theodor Fontane beschriebe­n hat. In einem an James Benning erinnernde­n Ansatz durchdring­t Sallmann in langen Einstellun­gen diese Kulturland­schaft, deren wirtschaft­licher Erfolg übrigens auch mit einem Ansiedlung­sprojekt verbunden war. Ein frühes Beispiel für europäisch­e Integratio­n – mit großen Nachteilen für die Tierwelt.

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Eine syrische Aktivistin (li.), die gegen Assad protestier­t, und die prorussisc­he Tante des Regisseurs Vitaly Mansky, die bei Neujahrsfe­iern auf bessere Zeiten hofft: „The War Show“und „Close Relations“untersuche­n die Umbrüche in Syrien respektive in...
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