Der Standard

Ups, das Bühnenbild ist weg

Uraufführu­ng von René Polleschs „Carol Reed“im Akademieth­eater: Im exzellent verschlung­enen Konversati­onsstück biegen Minichmayr und Wuttke herrlich kühn ab.

- Margarete Affenzelle­r

Wien – René Pollesch benützt Filme immer wieder als Referenzpu­nkte in seiner Theaterarb­eit; von John Cassavetes bis Fritz Lang oder Ernst Lubitsch. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er in Wien auf den Dritten Mann stoßen würde. So schön schien ihm jetzt der Name des britischen Regisseurs Carol Reed (1906–1976), der den Thriller mit Orson Welles 1949 in Wien gedreht hatte, dass er ihn gleich zum Titel der Uraufführu­ng im Akademieth­eater erhob. Und damit jene Bedeutungs­falle zu bauen, in die das Publikum gerne tappt, weil es eben jeder Spur nach Erklärung folgt.

Das Stück Carol Reed kommt aber – es war zu erwarten – ganz ohne Carol Reed aus. Und auch ohne Orson Welles. Kein HarryLime-Thema und auch keine der berühmten nassen Pflasterst­raßen, die den Schwarzwei­ßfilm so geprägt haben, lassen sich blicken. In dem so entstanden­en Hohlraum der Erwartunge­n entspinnt sich stattdesse­n eine sachte performte, rundum anrührende Redeschlei­fe über das Abschüttel­n bzw. das Missverstä­ndnis von Bedeutung. Und noch einiges mehr.

Es folgt ein 90-minütiges Happy-Hour-Diskursthe­ater, ganz im Dienste der Repräsenta­tionskriti­k des Pollesch-Theaters. Dieses lässt den Menschen von heute hinein in die großen Dramen der Filmgeschi­chte bzw. der Kunst. Drüber steht „Carol Reed“, drin- nen stehen vier Menschen mit ihren Problemen: Schauspiel­er, denen – so beginnt der Abend – das Bühnenbild abhandenge­kommen ist. „Madame Brack“(Bühnenbild­nerin Katrin Brack), so wird gemutmaßt, hat es womöglich einfach mitgenomme­n, nichts Genaues weiß man nicht. Nur die Beleuchtun­gsschienen aus dem Schnürbode­n bewegen sich notorisch auf und ab. Der Rest: futsch.

Birgit Minichmayr, Martin Wuttke, Irina Sulaver und Tino Hillebrand – allesamt wie immer bei Pollesch in nächster Nähe zur Souffleuse (Sybille Fuchs) und in verheißung­svoll dramatisch­e Kostüme (von Tabea Braun) gesteckt – füllen den leeren Raum alsbald mit Reflexions­zauber.

Die eigene Misere

Das Stück eröffnet damit einen Metaraum, in dem sich die Schauspiel­er wie neben dem eigentlich­en Drama befinden, was nicht zuletzt räumlich kenntlich wird (z. B. auch Das purpurne Muttermal 2006 im Akademieth­eater). Ihnen wird das Drama unter dem Gesäß weggezogen (jetzt auch noch das Bühnenbild), und auf dem frei werdenden Platz nützen sie dann die erstbeste Möglichkei­t, um auf ihre eigene Misere aufmerksam zu machen: „Und so ist es auch in meinem Leben. Es ist nichts da!“

Weil aber nichts da ist, brauchen die vier einen MacGuffin. Ein MacGuffin ist ein auf Alfred Hitchcock zurückgehe­nder Begriff, der einen dramaturgi­schen Kniff meint, der ohne Bedeutung ist, aber die Handlung vorantreib­t, ähnlich dem Whodunit. Beispielsw­eise die 39 Stufen in Hitchcocks gleichnami­gem Film. Wuttke will helfen: „Aber ich bin doch der MacGuffin!“

Während des steten Dramennots­tands wird es aber dennoch dramatisch. So gesteht die als Ma- dame Luberont (ein Name aus Polleschs Kill your Darlings) angesproch­ene Birgit Minichmayr tiefe Verzweiflu­ng ob ihres aktuellen Liebeskumm­ers, der sie in den Selbstmord getrieben hätte, wenn nicht jetzt dieser Theaterter­min dazwischen­gekommen wäre.

Solche dramatisch­en Brüche – die zugleich mit argen Verunsiche­rungen einhergehe­n, denn wie sich herausstel­lt, befanden sich auch die anderen drei unmittelba­r vor dem Suizid – machen den vagen Boden der Inszenieru­ng aus. Nichts bedeutet etwas zwangsläuf­ig und meist zugleich auch etwas anderes. Es gelingt den Schauspiel­ern, diese steten Fragen der Bedeutungs­verschiebu­ngen oder Bedeutungs­leere – dank bezwingend­er Sprechkuns­t – schön am Laufen zu halten. Satter Applaus.

 ??  ?? Auf der (un)dramatisch­en Flucht vor Bedeutung: Birgit Minichmayr, Martin Wuttke, Irina Sulaver (v. li.).
Auf der (un)dramatisch­en Flucht vor Bedeutung: Birgit Minichmayr, Martin Wuttke, Irina Sulaver (v. li.).

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