Mit Beinbruch zum Pfuscher in Burkina Faso
Traditionelle Heiler sind im westafrikanischen Land oft die ersten Ansprechpartner bei Beschwerden jeder Art. Sie können Schmerzen lindern, bei Augenleiden aber auch irreparable Schäden anrichten.
Als Noumam Sakandé aus dem kleinen Bus aussteigt, wird er von dutzenden Männern empfangen. Der 81-Jährige hat die Nacht in einer Klinik im zentralen Osten Burkina Fasos, 15 Minuten Fahrt von seinem Dorf Songdin entfernt, verbracht, wo er sich am Auge operieren ließ. Er ist der Dorfälteste und ein „Rebouteur“: ein Heiler, der mit Hausmitteln arbeitet, der Schmerzen oder Verletzungen an Beinen, Armen oder am Rücken mit überlieferten Methoden und ohne medizinische Ausbildung behandelt.
Auch die anderen Männer in Songdin bezeichnen sich als Rebouteurs. Das Wissen um die Heilung gebrochener Knochen und verschobener Bandscheiben werde seit Generationen unter den männlichen Mitgliedern der Großfamilie weitergetragen. Sakandé spricht von seinem Großvater und deutet mit einer Armbewegung an, dass schon dieser von seinen Urahnen gelernt habe.
Ihre Fähigkeiten verstehen sie als „Gabe Gottes“. Sie reiben Verletzungen mit Fett ein, legen Bandagen an, massieren Muskeln oder stabilisieren Knochenbrüche. In kleinen Lehmhütten mit Strohdächern bringen sie Verletzte unter. Improvisierte Krankenbetten aus bunten Decken liegen in den Ecken der sonst unmöblierten Räume. Elektrizität gibt es nicht. Ein bunter Wirrwarr aus Kübeln, Sackerln, Kleidung, Geschirr und Besen liegt am Boden herum. Die Rebouteurs erzählen, dass sie bis in die Nachbarstaaten – Ghana, Benin, Elfenbeinküste – als Heiler bekannt seien.
Frauen fehle die Courage
Behandeln würden sie ausnahmslos jeden – auch Frauen, sagen die muslimischen Männer. Rebouteurs könnten diese aber nicht werden. „Dazu fehlt ihnen die Courage“, meint Sakandé. Die Heilmethoden würden zudem von jeher nur unter den Männern weitergegeben. Ändert die Familie dies, laufe sie Gefahr „Gottes Gabe“zu verlieren.
Die Religion der Verletzten spiele keine Rolle. Muslime (rund 60 Prozent der Bevölkerung), Christen (rund 25 Prozent) und Angehörige anderer Glaubens- richtungen leben in Burkina Faso friedlich zusammen.
Heiler der Familie Sakandé behandeln nur Beschwerden, die den Bewegungsapparat betreffen. In anderen Fällen rieten sie, einen Arzt oder anderen Heiler zu konsultieren. Krankheiten wie Malaria könnten sie nicht therapieren. Es gebe aber „Guérisseurs“, also Heiler, die das könnten.
Ein Gerücht macht in dem westafrikanischen Land die Runde: Es gebe Heiler, die grauen Star, eine Trübung der Augenlinse, behandeln würden. Warum hat der 81jährige Sakandé, selbst an einer Katarakt erkrankt, nicht einen solchen Guérisseur besucht, sondern sich für den Eingriff in der Klinik entschieden? „Mit traditionellen Methoden ist das Auge nicht heilbar“, antwortet er. Sie hätten zumindest nie davon gehört, sagen die anderen Männer.
Der Chirurg in der Klinik erzählt etwas anderes: Es sei weit verbreitet, grauen Star von Pfuschern behandeln zu lassen. Überhaupt seien Guérisseurs für den Großteil der Bevölkerung die ersten Ansprechpartner bei Beschwerden jeder Art.
Von Heilern ruinierte Augen
Auguste Bicaba arbeitet seit vier Jahren in der Augenklinik in Zorgho. Allein an diesem Morgen haben er und zwei geschulte OPSchwestern 47 Katarakteingriffe durchgeführt. Dabei wird die getrübte Augenlinse entfernt und durch eine künstliche ersetzt. Das dauert 15 Minuten. Scharlatane drücken die Kristallproteine, die die Trübung verursachen, mit dem Finger den Augapfel entlang nach hinten, was vorübergehend als Besserung wahrgenommen wird, aber irreversible Schäden verursacht. Es komme „ständig“vor, dass Menschen mit von Heilern ruinierten Augen in die Klinik kommen, sagt Bicaba. Er könne dann nichts mehr für sie tun.
Emmanuel Kansié ärgert sich. Der Arzt könne bestimmt keinen Patienten nennen, dessen Augen tatsächlich auf diese Art vermurkst wurden, sagt der gebürtige Burkinabe zum STANDARD. Er ist Pressesprecher bei Licht für die Welt – die NGO finanziert die Augenklinik mit – und mit seinem Heimatland gut vertraut. Er glaube nicht, dass Heiler diese Praktik anwenden. Sie sei eine Mär, die man sich unter Stadtbewohnern erzähle, weil man die Menschen vom Land für unterlegen halte.
Grauer Star kommt in Burkina Faso häufiger vor als in Europa. Als Ursachen dafür werden Mangelernährung und fehlender Schutz vor UV-Strahlung vermutet. Aber auch unbehandelte Infektionen und Verletzungen können zur Erblindung führen. Die Organisation Licht für die Welt, die behinderte Menschen in Entwicklungsländern unterstützt, schätzt, dass zwei Prozent der rund 17,4 Millionen Einwohner des Landes blind sind. Das wären rund 350.000 Menschen; offizielle Zahlen existieren nicht. In Österreich gibt es rund 3000 Blinde.
Nur 26 Fachärzte landesweit
Allein in der Klinik in Zorgho wurden im Vorjahr 1500 Kataraktoperationen durchgeführt, sowie 19.000 Patienten mit anderen Augenkrankheiten behandelt. Es herrscht aber ein Mangel an Fachärzten: 26 Ophthalmologen gibt es insgesamt im Land.
Der Umgang mit den Patienten sei nicht immer einfach, erzählt Bicaba. Sie seien oft ängstlich oder misstrauisch, würden Anweisun- gen nicht befolgen – aus Unwissen oder weil sie es sich nicht leisten könnten, sich auszuruhen: „Sie gehen am Tag nach der Operation schwer arbeiten.“
Gesundheitsleistungen müssen die Burkinabe aus eigener Tasche bezahlen. Die Konsultation in der Klinik kostet 1000 Francs (1,50 Euro), eine Katarakt-OP kommt auf 60.000 Francs (90 Euro). Zum Vergleich: Das BIP pro Kopf lag in Burkina 2016 bei rund 615 Euro, in Österreich bei 40.000 Euro.
Wer sich die Behandlung nicht leisten kann, wird in der mit Entwicklungshilfegeldern finanzierten Klinik kostenlos versorgt. Die Patienten würden aber immer zunächst überprüft, sagt Klinikdirektor Dominique Nikiema. Man frage etwa beim Dorfältesten oder in der Kirche nach, wie die finanzielle Lage des Betroffenen sei. Denn „wenn etwas gratis zu bekommen ist, ist plötzlich jeder in Burkinabe arm“, sagt Nikiema.
Bei der Rebouteurs-Familie Sakandé stellt sich diese Frage nicht. Die Schmerzgeplagten müssen nichts bezahlen, sagt Sakandés Sohn Manzo. Die Familie lebt von der Landwirtschaft. „Wenn wir Geld nehmen würden, würden wir Gottes Gabe verlieren.“Die Recherchereise wurde von Licht für die Welt finanziert.