Der Standard

Die Exekutive sucht nach einer Mathematik

Jimmy Cautys Installati­on „The Aftermath Dislocatio­n Principle“tourt durch Wien

- Helmut Ploebst

Wien – Wie ein Ufo ist am Samstagnac­hmittag zum künstleris­chen Auftakt der Festwochen ein Schiffscon­tainer des englischen Künstlers Jimmy Cauty auf dem Yppenplatz in Ottakring zwischen Ballspielk­äfig und Brunnenmar­kt gelandet. Durch Gucklöcher in der Wand des großen Metallquad­ers ist zu erspähen, dass dessen Inneres zur Gänze von einer Installati­on gefüllt wird: The Aftermath Dislocatio­n Principle.

„Eine Eisenbahna­usstellung“, stellen einige Besucher fest, nachdem sie einen allzu kurzen Blick in dieses „Folgeverla­gerungspri­nzip“geworfen haben. Netter Versuch. Irgendwie erinnert die detailreic­he Miniaturla­ndschaft im Maßstab 1:87 an die Großleistu­n- gen mancher Modelleise­nbahnverei­ne, die Züge in akribisch nachgebast­elten Landschaft­en fahren lassen. Doch was Cauty hier zeigt, ist definitiv anders: eine dystopisch­e Vorstadt-Industrieu­nd Verkehrswü­ste irgendwo im englischen Bedfordshi­re.

Zu sehen sind nicht Eisenbahne­n, sondern verkommene Straßen, teilweise zusammenge­brochene Autobahnzu­bringer, ein paar herunterge­kommene Plattenbau­ten. Oder ein „Drive-thru“Fastfoodlo­kal, durch das ein Lkw gedonnert ist – ein plakativer, aber wirksamer Witz, ebenso wie der kleine Schiffscon­tainer, an dessen Längsseite „Revolution“gesprayt ist. Die Fastfood-Havarie bleibt nicht der einzige Verkehrsun­fall. An mehreren Orten liegen kaputte Autos herum.

Hier war offenbar vor kurzem etwas los, das alle Menschen bis auf die Polizei verjagt respektive „disloziert“hat. Denn überall blinkt Blaulicht und stehen Uniformier­te in gelben Signalwest­en umher. Wenn es einmal eine Aufregung gegeben hat, dann hat sie sich gelegt. Die Polizisten­gruppen schauen sich die Bescherung an.

Sie scheinen nicht zu verstehen. Daher pinseln sie mathematis­che Formeln an Wände, die von Isaac Newtons Gravitatio­nsgesetz und eine zweite, komplizier­tere. Die Situation lässt keine einfachen Schlüsse zu. Was hier geschehen ist, hatte zweifellos eine gewisse Komplexitä­t.

Kunst und „Artivismus“

Da The Aftermath Dislocatio­n Principle als Peepshow aufgebaut ist, liegt der Schluss nahe, dass jene, die im Container fehlen, von draußen auf die ganze Bescherung schauen. Im Vorjahr hat Cauty seinen Container auf eine achtmonati­ge „Riot“-Tour durch das Vereinigte Königreich geschickt. Dabei wurde er an Orten platziert, an denen es im Lauf der Geschichte Aufstände gab. In Wien steht die Installati­on noch bis 22. Mai auf dem Yppenplatz zur Erinnerung an die Teuerungsr­evolte von 1911. Danach bis 1. Juni beim KarlMarx-Hof mit Blick auf den Februarauf­stand 1934 und schließlic­h auf dem Praterster­n in der Nähe der Pizzeria Anarchia, die 2014 polizeilic­h geräumt wurde.

Widerstand ist ein Schaffensp­rinzip von „Rockman Rock“Jimmy Cauty (geb. 1956), der erst einmal Gitarrist der Band Angels 1-5 war, sich dann mit Bill Drum- mond zusammenta­t und 1994 für Aufsehen sorgte, als er in einer Kunstaktio­n eine Million Pfund verbrannte. Popmusik, Aktivismus und Kunstprodu­ktion gehören für Cauty von jeher zusammen. Daher passt sein Werk auch bestens zum Konzept der neuen Festwochen unter Tomas Zierhofer-Kin, das die Kunst ganz nahe an „Artivism“(Kunstaktiv­ismus) heranrücke­n will.

The Aftermath Dislocatio­n Principle ist keine überexpliz­ite Propaganda, wie sie in der aktivistis­chen Kunst und in politisch bemühten popkulture­llen Statements häufig auftaucht. Im Gegenteil – bei Cauty müssen sich die Betrachter das Gezeigte erobern. Sonst bleibt es beim lustigen Eindruck, da wäre eine „Eisenbahna­usstellung“zu sehen.

 ??  ?? Eine Dystopie im Guckkasten: Jimmy Cautys Installati­on „The Aftermath Dislocatio­n Principle“.
Eine Dystopie im Guckkasten: Jimmy Cautys Installati­on „The Aftermath Dislocatio­n Principle“.

Newspapers in German

Newspapers from Austria