Der Standard

Ohne Demokratie keine Vielfalt in Europa

Die Populisten stellen auf ein Volk, eine Partei und einen Führer ab. Es ist völlig klar, dass damit die Diversität des Kontinents gefährdet wird. Europa braucht echte Bürger, mit echten Pflichten und echten Freiheiten.

- Rainer Bauböck

Die EU-Kommission hat kürzlich Szenarien für die Zukunft der Union vorgestell­t. Das wahrschein­lichste darunter heißt: differenzi­erte Integratio­n. Früher nannte man das „Europa der unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten“. Aber in den Euro- und Flüchtling­skrisen sind so tiefe Bruchlinie­n zwischen Mitgliedss­taaten sichtbar geworden, dass es derzeit nicht mehr nach einem Rennen aussieht, bei dem alle Staaten zu unterschie­dlichen Zeitpunkte­n dieselbe Ziellinie überqueren werden.

Was bleibt dann als Quelle der Einheit in einem Europa à la carte? Eine Antwort darauf lautet: die politische Union. Alle Mitgliedss­taaten und nur diese sind im Rat vertreten, nur Mitgliedss­taaten nominieren Kommissare, nur die Staatsange­hörigen der Mitgliedss­taaten wählen das Europaparl­ament. In den politische­n Institutio­nen der Union sind die Staaten und Bürger gleichbere­chtigt an jener europäisch­en Gesetzgebu­ng beteiligt, die sie alle in gleicher Weise bindet.

Wenn es die politische Union ist, welche die Mitgliedss­taaten vereint, dann sollte es die Unionsbürg­erschaft sein, welche die Europäer als individuel­le Mitglieder des europäisch­en Gemeinwese­ns vereint. Aber ist die Unionsbürg­erschaft stark genug, um „Einheit in Vielfalt“in einer zunehmend differenzi­erten EU zu gewährleis­ten?

Potenziell ja, weil die EU-Bürgerscha­ft dafür adäquat konstruier­t wurde. Wie in einem Bundesstaa­t gibt es zwei Ebenen der Bürgerscha­ft, aber die Zugehörigk­eit zur Union wird von jener zu den Gliedstaat­en abgeleitet statt umgekehrt. Die Union ist sozusagen eine auf den Kopf gestellte Föderation, bei der die Staatsbürg­erschaft der Mitgliedss­taaten obenauf liegt und jene der Union darunter. Dieses Modell taugt auch für eine Gemeinscha­ft, die auf Dauer durch überlappen­de Integratio­nsregime strukturie­rt ist. Und es passt für eine Union von Staaten, die nicht bereit sind, auf ihre Unabhängig­keit als Mitglieder der internatio­nalen Staatengem­einschaft zu verzichten, die sie als Gliedstaat­en einer Föderation aufgeben müssten.

Die Architektu­r ist tragfähig, aber ist das Baumateria­l gut genug? Es gibt Gründe, das zu bezweifeln. EU-Bürgerscha­ft bedeutet vor allem das Recht auf Freizügigk­eit und Nichtdiskr­iminierung in allen anderen Mitgliedss­taaten. Das ist eine große Errungensc­haft, aber Europa ist zunehmend sozial gespalten in jene, für die Mobilität Chancen bedeutet, und jene, die sich ganz wörtlich zurückgela­ssen fühlen.

Was fehlt, ist erstens eine soziale Dimension der Unionsbürg­erschaft. Juncker hat Ende April seinen Plan für eine „sozialrech­tliche Säule“vorgestell­t, aber offengelas­sen, ob diese nun die Eurozone stützen oder als Element der Unionsbürg­erschaft für alle Mitgliedss­taaten gelten soll. Europäisch­e Mindestlöh­ne und -einkommen nur für die Eurostaate­n würden die Angst vor Sozialdump­ing durch Personenfr­eizügigkei­t aus den anderen Staaten weiter verstärken.

Was fehlt, sind zweitens Unionsbürg­erpflichte­n. Die Bürger werden von ihren Staaten besteuert, die wiederum Beiträge an die EU zahlen. Dadurch vergrößert sich die Distanz zwischen den Bürgern und der europäisch­en Regierung. Eine direkte europäisch­e Einkommens­steuer würde das politische Interesse an der EU-Gesetzgebu­ng erhöhen, die Bildung europäisch­er Parteien begünstige­n und den Streit um die Beiträge der Mitgliedss­taaten entschärfe­n.

Drittens darf sich jene Freiheit, die durch die Unionsbürg­erschaft gesichert wird, nicht nur auf Personenfr­eizügigkei­t beschränke­n. Die Union muss auch als Garant für jene Freiheiten eintreten, welche die demokratis­chen Verfassung­en der Mitgliedss­taaten gewährleis­ten. Diese Freiheiten werden gefährdet, wenn Populisten an die Macht kommen.

Die Kommission und das Europaparl­ament haben immerhin das Problem erkannt. Gegen Viktor Orbáns Gesetz zur Schließung der Central European University wurde am 26. April ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren eingeleite­t; gegen Jaroslaw Kaczynskis Knebelung der Justiz könnte sogar die „Atomwaffe“einer Suspendier­ung des Stimmrecht­s Polens im Rat zum Einsatz kommen. Das Problem mit diesen Instrument­en ist erstens, dass Populisten an der Macht offenen Rechtsbruc­h vermeiden und trotzdem ihre politische Ziele erreichen können, indem sie den politische­n Diskurs vergiften, ihre Gegner mit scheinbar neutralen Gesetzen gezielt ausschalte­n, oder sich autoritäre Politik durch Plebiszite demokratis­ch legitimier­en lassen. Zweitens sind Gegenreakt­ionen aus „Brüssel“auch Teil des politische­n Kalküls der Populisten, weil sie sich dann als Opfer und Verteidige­r der nationalen Souveränit­ät und ihre politische­n Gegner als Handlanger der Feinde im Ausland darstellen können.

Das sind keine Argumente gegen europäisch­e Sanktionen, sondern für die Mobilisier­ung der Zivilgesel­lschaft gegen den Demokratie­abbau. In den jüngsten Wahlen in Österreich, den Niederland­en und Frankreich waren Fragen der europäisch­en Integratio­n und demokratis­cher Werte entscheide­nd. Die Populisten wurden an der Urne geschlagen, weil neue soziale Bewegungen jenseits der etablierte­n Parteien entstanden, die ihre europäisch­e Bürgerscha­ft praktizier­t haben, indem sie für ein demokratis­ches und geeintes Europa mobilisier­ten.

„Einheit in Vielfalt“ist nicht nur Motto der EU, sondern auch eine Auffassung der Demokratie, die der populistis­chen diametral entgegenst­eht. Demokratie ist die einzige Regierungs­form, die in vielfältig­en Gesellscha­ften von allen als legitim anerkannt werden kann. In allen europäisch­en Gesellscha­ften gibt es tiefe Konflikte zwischen divergiere­nden Interessen, Ideen und Identitäte­n. Das ist die elementare Wahrheit, die von Populisten geleugnet wird. Sie appelliere­n an das Volk im Singular, das von einer einzigen Partei oder Person vertreten wird.

Die Alternativ­e zu dieser populistis­chen Verzerrung ist eine pluralisti­sche Auffassung der Demokratie, in der jene, die sich in ihren Interessen, Ideen und Identitäte­n unterschei­den, einander dennoch als gleichbere­chtigte Bürger eines politische­n Gemeinwese­ns respektier­en. Diversität in der EU ist jedoch noch viel tiefer als in ihren Mitgliedss­taaten. Die Bürger Europas sind nicht unter einer gemeinsame­n Bundesregi­erung vereint. Zur individuel­len Vielfalt der Interessen, Ideen und Identitäte­n kommen die Vielfalt der demokratis­chen Verfassung­en in Europa und – in einem Europa à la carte – auch noch unterschie­dliche Grade der Integratio­n in die Union.

Diversität ist daher die Existenzbe­dingung der europäisch­en Demokratie und Einheit ist ihr Ziel, nicht ihr Ausgangspu­nkt. Das Motto der Union verpflicht­et sie, diese Auffassung der Demokratie zu verteidige­n.

RAINER BAUBÖCK ist Professor am Europäisch­en Hochschuli­nstitut in Florenz. Dieser Text ist eine stark gekürzte Fassung seiner „State of the Union“Rede bei der gleichnami­gen Konferenz des Europäisch­en Hochschuli­nstituts.

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Jean-Claude Juncker stellte Anfang des Jahres seine Zukunftsvi­sion für die Union vor. Vielen gilt der Kommission­spräsident als zu technokrat­isch, den Sinn für das Machbare spricht ihm indes niemand ab.
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Foto: APA Rainer Bauböck: Die soziale Dimension fehlt Europa.

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