Der Standard

Kampf ums Land trifft Brasiliens Indigene

Die neue brasiliani­sche Regierung schützt so offen wie noch nie die Interessen der Agrarlobby. Zu den Opfern dieser Politik zählen auch die Indigenen. Immer öfter werden sie angegriffe­n und vertrieben.

- Susann Kreutzmann aus São Paulo

„Plötzlich stürzte ich, war benommen“, erinnert sich Inaldo Serejo. Ein Verwandter habe ihn weggezogen. „Sie kamen hinter mir her, sie wollten mich töten.“Als der Führer des brasiliani­schen Indianervo­lkes der Gamela wieder zu sich kam, sah er, wie ein Angreifer einem Stammesmit­glied die Hände abschneide­n wollte. „Es war wie ein Lynchmord“, sagt Serejo noch sichtlich geschockt. Inzwischen wurde er operiert, eine Kugel traf ihn in den Kopf. Drei weitere Mitglieder seiner Gemeinscha­ft sind noch im Spital, 33 Indigene wurden bei dem Angriff verletzt. Eine Gewehrkuge­l zerfetzte einen Lungenflüg­el von José Aldeli, bei seinem Bruder wurden beide Hände halb abgetrennt. Anderen Ureinwohne­rn wurden Beine und Knie durch Stockschlä­ge gebrochen, berichtet das Landpastor­al (Pastoral da Terra) nach dem blutigen Überfall auf das Volk im Amazonas-Bundesstaa­t Maranhão.

1500 gewaltsame Konflikte

Rund 200 von Großgrundb­esitzern angeheuert­e Schläger und aufgestach­elte Landarbeit­er hatten sich Ende April mit Mopeds zu den Hütten der Gamela aufgemacht. Laut Augenzeuge­nberichten war sogar eine Patrouille der Polizei in der Nähe, die aber nicht eingriff. Es war nicht das erste Mal, dass die Gemeinscha­ft brutal überfallen wurde. Landkonfli­kte werden in Brasilien immer grausamer ausgetrage­n.

Allein im vergangene­n Jahr gab es landesweit mehr als 1500 solcher gewaltsame­n Konflikte, wie das Landpastor­al bestätigt. 61 Menschen kamen dabei um, in den vergangene­n zehn Jahren wurden mehr als 600 Ureinwohne­r getötet. Mit am schärfsten sind die Auseinande­rsetzungen in Ma- ranhão, dem ärmsten Bundesstaa­t Brasiliens.

Aber die brasiliani­schen Medien lenken selten die Aufmerksam­keit auf die Übergriffe, die weit entfernt von den Metropolen stattfinde­n. Die Behörden ermitteln ohnehin in den seltensten Fällen, meistens gehen die Täter straffrei aus. Dass es dieses Mal anders ist, liegt vor allem an den Indigenen, die beim Landpastor­al und bei internatio­nalen Organisati­onen Hilfe gesucht haben. Schnell wird klar, dass die Gewalt gegen die Gamela stellvertr­etend für eine Politik steht, in der die Ureinwohne­r Brasiliens jeglichen Schutz verloren haben.

Beobachter sprechen von einer angekündig­ten Tragödie. Vor mehr als zwei Jahren stellte der Stamm bei der Indigenen-Behörde Funai einen Antrag auf Rückgabe von Land, das in den 1980er-Jahren illegal von Großgrundb­esitzern besetzt worden war. Doch bis heute ist nichts geschehen. Die Gamela entschloss­en sich daraufhin, sich auf dem Land – rund 530 Hektar – mit 700 Familien anzusiedel­n. Dabei vertrieben sie allerdings andere Kleinbauer­n, die mit dem Land ihre Familien versorgen mussten. Plötzlich standen einander arme Landarbeit­er und Ureinwohne­r als unversöhnl­iche Feinde gegenüber.

Politik für Großgrundb­esitzer

„Der Konflikt konnte nur so grausam werden, weil die Regierung nicht handelt“, sagt Cleber Buzatto, Generalsek­retär des Indigenen-Missionsra­ts Cimi. Weder den Ureinwohne­rn werde ihr rechtmäßig­es Land zurückgege­ben noch gebe es eine Agrarrefor­m für landlose Bauern. Die Agrarlobby stelle die größte Fraktion im Kongress und mache eine Politik für die Großgrundb­esitzer. So werden Gesetze beraten, die die Schutzzone­n für Indianerge­biete aufweichen und Abholzunge­n im Amazonas ausweiten sollen.

Der Indigenen-Behörde Funai – laut Verfassung für den Schutz der Ureinwohne­r zuständig, die weniger als ein Prozent der brasi- lianischen Bevölkerun­g ausmachen – wurde von der neuen rechtslibe­ralen Regierung unter Michel Temer der Haushalt um 44 Prozent gestrichen. Damit ist sie de facto handlungsu­nfähig, wie ihr Chef Antônio Fernandes Costa betont. Nach dem Überfall auf die Gamela erneuerte der evangelika­le Pastor seine Kritik – und wurde wenig später überrasche­nd entlassen. „Das Agrarbusin­ess ist dabei, die Kontrolle zu übernehmen. Brasilien muss endlich aufwachen. Das Volk wird betäubt“, empörte sich Costa daraufhin bei einer spontan einberufen­en Pressekonf­erenz.

„Brasilien durchlebt die kritischst­en Momente seit seiner Demokratis­ierung“, sagt Márcio Santilli vom Instituto Socioambie­ntal, der elf Jahre die Indianerbe­hörde Funai führte. Im vergangene­n Jahr sei in keinem einzigen Fall Stammeslan­d an die Ureinwohne­r zurückgege­ben worden. „Die Regierung hat komplett versagt. Landkonfli­kte werden zunehmen“, sagt Santilli.

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 ??  ?? Zwei Gamela-Frauen stehen kurz nach dem Angriff auf ihre Gemeinscha­ft unter Schock. Die Konflikte um Land werden in Brasilien brutaler.
Zwei Gamela-Frauen stehen kurz nach dem Angriff auf ihre Gemeinscha­ft unter Schock. Die Konflikte um Land werden in Brasilien brutaler.

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